Silja Graupe ist Initiatorin der ersten Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Deutschland. Sie ist Gründerin und Präsidentin der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung (HfGG) in Koblenz und dort Professorin für Ökonomie und Philosophie. Sie plädiert für eine Gemeinsinn-Ökonomie, in der Menschen aufblühen und gemeinsam eine gute Zukunft für alle schaffen. Dafür setzt sie sich in Lehre, Forschung, Gesellschaftstransformation sowie in der Neugestaltung der Bildung und des Bildungssystems ein.
Elita Wiegand hat mit der ZukunftsMacherin Prof. Dr. Silja Graupe ein Interview geführt.
Du bist nicht nur Gründerin der ersten Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Deutschland, sondern bist dort Professorin für Ökonomie und Philosophie und Du giltst als Vorreiterin im Bereich der Imaginations- und Zukunftsforschung der Ökonomie. Du willst in der Lehre aus den systemischen Zwängen ausbrechen und wehrst Dich gegen eine Bildung, die zu einer gedrillten Maschine wird und die nur auf Wirtschaftswachstum ausgerichtet ist. Wie können wir unseren Denkstil ändern?
Silja Graupe: Ich selbst habe ein klassisches Wirtschafts- und Ingenieurstudium absolviert. Auch damals habe ich die Folien über Statistiken und Bilanzen auswendig gelernt und mich gleichzeitig gefragt, warum ich all die Formeln zur Gewinnmaximierung lernen muss und warum diese Form der Ökonomie als die einzige Wahrheit gelehrt wird. Aber ich habe den Hörsaal nicht verlassen, ich habe nicht gegen die Inhalte des Studiums protestiert. Es hat etwas mit mir gemacht, es hat mich zum Schweigen gebracht, weil ich nicht wusste, was ich mit diesem Wissen anfangen sollte und zugleich für das, was mir wichtig war, keine Sprache gegeben.
Sich daraus Schritt für Schritt befreien zu können, halte ich für eine wichtige Bildungsaufgabe; damals musste ich sie mir komplett selbst erarbeiten. Gleichzeitig öffnet es den Horizont, zu sich selbst zu kommen und zu verstehen, was mit einem passiert. Es gibt bereits viele Formen des transformativen Wirtschaftens, es gibt das Wissen darüber und die Perspektiven, die uns in einem lebendigen, bunten Kosmos aufblühen lassen. Sie resonieren oft mit unserem Inneren, aber den Mut, den Ausdruck und das Können entwickeln zu dürfen, sie auch tatsächlich zu leben und für sie einzustehen, wird kaum irgendwo gelehrt. Deswegen heißt das Motto unserer Hochschule auch: Gib deinem Sinn ein Leben!
Damit die Fehler Deines Studiums nicht wiederholt werden, hast Du mit der Gründung Deiner Hochschule für Gesellschaftsgestaltung einen Innovationsort für sinnstiftendes Lernen geschaffen, um es jungen Menschen zu ermöglichen, transformativ zu wirken. Wie erlebst Du junge Menschen, die in Deiner Hochschule ein Studium beginnen?
Silja Graupe: Die Hochschule für Gesellschaftsgestaltung habe ich gegründet, weil ich sehe, dass junge Menschen vom Zustand der Welt betroffen sind, aber auch den Willen haben, etwas zu gestalten. Es ist eine Mischung aus „hier läuft etwas gewaltig schief“, ich will etwas verändern, aber ich weiß nicht wie. Ich erlebe, dass junge Menschen andernorts nicht gehört werden und ihnen das alte Wissen eingetrichtert wird. Das bedeutet eine unglaubliche Traurigkeit und gleichzeitig eine Perspektivlosigkeit und tiefe Angst. Aber ich sehe, wo Bildung ansetzen kann, um die sozial-ökologische Transformation zu meistern: Wir müssen junge Menschen ernst nehmen! Vor allem helfen, dass sie zu sich selbst kommen und dem, was sie bewegt, eine Sprache geben, sie sprachfähig machen und gleichzeitig die schöpferischen Kräfte in sich entdecken dürfen. Für sie geht es um die Fragen: Wie kann Zukunft aussehen, die ich mitgestalten möchte? Wie kann ich meine Werte reflektieren und verändern? Der andere große Strang ist, dass junge Menschen verstehen können, dass sie Teil der Gesellschaft sind und etwas verändern können.
Das heißt auch, dass Du das Zukunftsvakuum auflösen willst, damit die sozial-ökologische Transformation gelingt, aber wie?
Silja Graupe: Viele junge Menschen geben sich selbst die Schuld. Aber dann erleben sie bei uns eine unglaubliche Befreiung, verbunden mit der Erkenntnis, dass das System selbst Probleme hat. Wir brauchen Empathie und müssen uns vom Schubladendenken und der Wachstumsidee verabschieden. An die Stelle von maßlosem Wachstum treten neue qualitative Werte, die wir demokratisch aushandeln. Das erfordert einen Wandel in Politik und Bildung. Gesellschaft gestalten heißt, angesichts der aktuellen Krisen zwischen Ignoranz und Zynismus, die Freiräume und Bruchstellen zu identifizieren, an denen die Transformation ansetzen kann.
Was genau braucht es, um die Bildung zu transformieren?
Silja Graupe: Es braucht ein Verständnis von transformativer Bildung. Die Zukunft lässt sich nicht planbar antizipieren und in überprüfbare und messbare Einzelkompetenzen zerlegen. Wir haben aber bisher gerade eine Wirtschaftswissenschaft, die nur den Weg nach oben kennt, den Weg des Fortschritts, des „immer besser“ und der Konkurrenz, die jedem Studierenden sagt, nur einer von euch wird hier überleben. Der Optimierungswahn erzeugt Leid, weil er Externalitäten erzeugt: Bienen sterben, Landstriche werden verwüstet, Menschen werden depressiv und einsam. Wissenschaftler:innen müssen sich dem öffnen, um zu erkennen, dass sie eine Rolle in den Möglichkeiten der Veränderungen spielen. Das ist für mich das große Projekt der Wissenschaft, das mit der Reflexion des eigenen Standpunktes zu tun hat, aber auch viel mit der konkreten Erfahrung, die gerade meine Wissenschaft, die Ökonomie hinter dem Schleier von Zahlen und Statistiken mit aller Macht verstecken will.
Die Hochschule bezeichnest Du als Dein Lebenswerk. Doch Deine Zeit ist begrenzt, weil Du erkrankt bist und Du nicht weißt, was morgen ist. Wie kannst Du damit umgehen?
Silja Graupe: Kurz gesagt, funktioniert die Kommunikation zwischen meinen Nerven und Muskeln immer weniger. Es ist eine Krankheit, die nicht heilbar ist, und es geht mir immer schlechter. Die Krankheit verursacht enorme Schmerzen, die ich immer wieder neu ertragen lernen muss. Schlimmer noch ist die zunehmende Schwäche, gegen die ich nicht ankämpfen kann. Ich leide, und ich kann es nicht ändern. In all dem verkörpere ich ein Leben, das es nach dem heutigen Wirtschaftssystem nicht geben darf. Denn es wird immer gelehrt, dass wir alles planen können, dass es keine Unsicherheit gibt, sondern nur Sicherheit und Fortschritt, das wird die Freude dem Leid immer vorziehen können. Aber ich kann nichts gegen meine Schmerzen und Schwäche tun, ich weiß nicht, was passieren wird – noch nicht einmal während eines einzigen Tages. Ich habe keine Wahl; ich bin, wie ich bin. Damit widerspricht mein Leben, wie meine Studierenden immer wieder sagen, fundamental den gesellschaftlichen Grundwerten des Fortschritts. Ich bin nicht optimierbar, man kann mit meiner Krankheit kein Geld verdienen. Für meine Studierenden liegt darin eine wichtige Quelle der Veränderung: Dass die Welt nicht immer besser wird, wie ihnen der Fortschrittsglaube weismachen will, sehen sie ja jeden Tag selbst angesichts von persönlichen Problemen, Klimakrise, Kriegen selbst. Wie aber ist dann ein gutes Leben möglich? Warum engagiere ich mich weiter, warum wird in meinem Umfeld eine so enorme Lebendigkeit und Intensität spürbar?
Ich bin offen, jeden Moment neu zu definieren, zu sehen, was Leid und Freude, was Rückschritt und was Fortschritt tatsächlich sind. Ich habe keine Angst vor Veränderungen, weil ich immer wieder neu erlebe, wie aus tiefstem Schmerz neue Werte entstehen können. Meine radikale Offenheit eröffnet neue und tiefe menschliche Begegnungen. Gerade meine Verletzlichkeit und meine unbedingte Angewiesenheit auf Hilfe schaffen Räume, in denen Menschen über sich hinauswachsen und plötzlich entdecken können, was ihnen wichtig ist. Es ist ein Riesengeschenk, aus einer so tiefen Menschlichkeit und Offenheit heraus eine Hochschule gestalten zu können. Wir lachen enorm viel, weil im Angesicht von Krankheit und Sterben immer wieder überraschende Perspektivwechsel möglich werden und dass ansonsten Alltägliche so herrlich absurd und grotesk erscheinen kann. Gleichzeitig ist unsere Hochschule auch ein Ort, an dem wir zusammen trauern und weinen, weil die Krankheit natürlich schrecklich ist und sie mich verlieren werden. Die menschliche Atmosphäre öffnet Türen und die Studierenden erzählen mir, wie sie ihre Mutter an Krebs verloren haben oder wie sich ihr Onkel in der Wirtschaftskrise erschossen hat. All diese Dinge kommen auf den Tisch, wir sprechen über die eigene Endlichkeit und Verletzlichkeit, lernen, Philosophie und Wissenschaft zur Hilfe zu nehmen, und begreifen mehr und mehr, was wir eigentlich im eigenen Leben und weit darüber hinaus für andere bewirken möchten.
An Deiner Hochschule habt Ihr »4FutureLabs« entwickelt. Das Konzept der 4FLs trainiert die Fähigkeit zur Imagination besserer Zukünfte. Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Silja Graupe: An unserer Hochschule haben wir die 4FutureLabs als Methode des transformativen Lernens erprobt und weiterentwickelt. Um eine lebenswerte Zukunft für Mensch und Natur gestalten zu können, müssen wir Menschen dabei unterstützen, lähmende Zukunftsängste etwa in Bezug auf Natur- und Klimaschutz zu überwinden. Wir müssen ihnen Gelegenheiten bieten, Offenheit, Kreativität, Sinnstiftung, Widerstandsfähigkeit und auch Verletzlichkeit in sich zu wecken. Es geht darum, die Vorstellungskraft für wünschenswerte Zukunftsbilder zu kultivieren und sich des eigenen kreativ-imaginierenden Potenzials bewusst zu werden. So haben Menschen die Möglichkeit, ihre inneren Bilder zu verändern. Das ist unglaublich friedensstiftend und ermächtigend, denn sie können sich entscheiden und über Bilder verfügen, um ihre Emotionen zu verändern. Sie erleben, wie sie etwa von Frieden, Gemeinschaft und Sinnstiftung, von einer intakten Natur, die sie umgibt, und von Familie träumen und erarbeiten, welche Schritte sie in ihrem eigenen Leben und in der Gesellschaft unternehmen wollen, damit das Wirklichkeit werden kann.
Eine Gruppe von Schüler:innen der Oberstufe stellte sich zum Beispiel die Frage: „Wie werden wir in 25 Jahren zusammenleben?“ Sie imaginierten eine Stadt, in der das gemeinsame sinnstiftende Tun alle Menschen verbinden wird. Aber wie sollte das realisierbar sein, fragten sie sich. Innerhalb von nur einer Stunde entwickelten sie sodann die Idee, dass Tinder in ihrer neuen Stadt überflüssig wäre. Stattdessen würde es eine neue App geben, die sie treffend SINNder nannten. Die wesentlichen Eckpunkte des zugrundeliegenden Algorithmus erdachten sie dabei gleich mit. Das ist ein Beispiel für die Kraft eines tiefgreifenden und zugleich konkret-kreativen Wandels, der der Kern unserer 4Futurelabs ist.
Nun willst Du die Hochschule finanziell absichern und hast eine Foundation gegründet, um den Fortbestand zu garantieren. Warum bist Du überhaupt auf Förderer angewiesen?
Silja Graupe: Im Gegensatz zu allen anderen Hochschulen, die altes Wissen lehren, bekommen wir keinen Cent vom Staat, weder vom Bund noch vom Land. Das ist Staatsversagen, weil wir zwar staatlich anerkannt sind, aber Steuerzahler:innen uns nichts zugute lasen kommen können. Wir brauchen zwei Millionen Euro im Jahr. 20 Prozent davon tragen unsere Studierenden durch ihre Beiträge bei, 80 Prozent kommen von philanthropischen Förderern, also von Menschen und Organisationen, die uns freiwillig und freilassend Geld geben. Von der Macht des Geldes, die durchregierte, uns Vorschriften machte oder unsere Freiheit beeinflusste, wollen wir auf jeden Fall unabhängig bleiben. Was es dafür braucht, ist das dauerhafte Engagement vieler, vieler Menschen. Wir haben bereits tolle Förderer gefunden, die uns in unserem unabhängigen Einsatz für das Gemeinwohl stärken. Aber es müssen noch viel mehr werden, und wir brauchen einen langen, sehr langen Atem. Dafür benötigen wir eine ganze zivilgesellschaftliche Bewegung, die gerade auch finanziell hinter uns steht und von der Macht, die Geld ansonsten mit sich bringt, schützt. Deshalb habe ich die Online-Stiftung „Freiheit zur Gesellschaftsgestaltung“ gegründet. Über sie kann jeder die HfGG unterstützen, jeder gibt, was er kann. Das können 100 oder 10.000 Euro sein.
Aber eigentlich geht es um viel mehr als eine reine Hochschulfinanzierung. Es geht um die grundlegende Frage, wie wir eine bessere Zukunft für alle schaffen können. Die HfGG ist eher ein Think-and-Do-Universum als eine klassische Hochschule. Aus uns erwachsen unglaubliche tolle und inspirierende Persönlichkeiten, Visionen, Ideen, Projekte, Unternehmen, Organisationen, die alle miteinander verbunden sind und kooperieren wollen. Ich sage immer: Bei uns sollen sich alle Menschen gemeinsam bilden, die an den unterschiedlichsten Stellen der Wirkungskette für eine sozial-ökologische Transformation wirken: etwa von den Aktivist:innen im Hambacher Forst bis hin zu den Entscheider:innen in Politik und Wirtschaft, die die Kohlekraftwerke endlich sozialverträglich abschalten werden. Bislang gab es noch kein Konzept, wie so ein ganzes neues Ökosystem des Wandels finanziell gefördert und langfristig gestärkt werden kann. Mit meiner neuen Stiftung „Freiheit zur Gesellschaftsgestaltung“ haben wir dazu nun den Schlüssel gefunden. Denn sie wird zunächst dafür sorgen, dass die sinnstiftende Quelle dieses Systems, die HfGG, nicht versiegen, sondern im Gegenteil erstarken wird, und alle Menschen unabhängig von ihrem Portemonnaie dort studieren und ihre Alumni immer wieder Rat und Stärkung suchen können. Darüber hinaus wird sie dann all jene gemeinnützigen Organisationen und Projekte finanziell stärken, die aus der HfGG erwachsen und kooperativ tiefgehenden Wandel für eine bessere Zukunft aller bewirken werden. Wer uns fördert, gießt also gleichsam keine vereinzelten Bäumchen in einer ansonsten vertrockneten Landschaft, sondern ermöglicht ein riesiges Bewaldungsprojekt, das aus bisherigen Wüsten vielfältige, vernetzte und resistente Landschaften macht!
Meine Einladung und meine Bitte: Seid auch dabei. Werdet Teil dieser wunderbaren Bewegung und spendet, was Ihr vermögt!