Hemme Milch: Kommt alles vom Hof
Hemme Milch ist ein Familienbetrieb und er besteht seit 1589. Auf dem Hof werden etwa 400 Kühe gehalten – die Verarbeitung der Rohmilch hat der Hof übernommen und vermarktet Joghurts, Pudding und Milch. Elita Wiegand hat Jörgen Hemme interviewt und ihm über die Besonderheiten der Wertschöpfunskette bei Hemme gesprochen.

Jörgen Hemme
Seit der Jahrtausendwende ist die Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe um fast 45 Prozent gesunken. Hemme Milch hat überlebt. Sie sind Geschäftsführer der Hemme Milch GmbH & Co. Vertriebs KG aus Wedemark, ein Betrieb, der seit 1589 besteht, also seit mehr als 400 Jahren in der 18. Generation. Was verbinden Sie mit der langjährigen Tradition?
Jörgen Hemme: Als unser Betrieb vor 400 Jahren entstanden ist, diente die Bewirtschaftung dem Selbsterhalt. Bis ins 18. Jahrhundert beherrschte die Subsistenzwirtschaft das Leben der Landwirte, es wurde nur das angebaut, was man benötigte. In unserer Region gab es neben Kiefernwäldern und Heidelandschaften nur karge Schafsweiden. Die schwierigen Bodenverhältnisse erlaubten keine landwirtschaftliche Intensivnutzung und verhinderten zugleich Leibeigenschaften. Dadurch waren die Bauern zwar frei, aber ihre Existenz blieb hart: Es ging täglich ums Überleben. Die generationsübergreifenden Erfahrungen haben unsere regionale Identität geprägt, man könnte sagen, sie ist Teil unserer kollektiven DNA. Man fühlt sich dem Grund und Boden verpflichtet, den man von den Vorfahren geerbt hat. Für mich hat sich dieses Gefühl der Verbundenheit sogar über meine Kinder fortgesetzt und meine mittlere Tochter ist inzwischen aktiv ins Unternehmen eingestiegen.
Das Gefühl der Verbundenheit ist auch an ihrem einzigartigen Weg zu erkennen. Sie decken auf Ihrem Hof von der Kälberaufzucht, der Milcherzeugung über die Herstellung des inzwischen 34 Artikel umfassenden Produktsortiments bis hin zur Verpackung die gesamte Wertschöpfungskette ab. Wie muss man sich das vorstellen?
Jörgen Hemme: Wir führen nicht nur einen landwirtschaftlichen Betrieb, sondern haben eine eigene Marke aufgebaut – und das Besondere daran ist, dass wir die gesamte Wertschöpfungskette selbst abdecken. Das bedeutet, dass wir nicht nur die Rohstoffe produzieren, sondern auch die Weiterverarbeitung, den Vertrieb und die Logistik in eigener Hand haben.
Ein zentrales Stichwort dabei ist die Direktvermarktung, mit einem entscheidenden Vorteil: Sie verkürzen die Wege zwischen dem Produzenten und Verbraucher. Dennoch stammen die meisten Lebensmittel, die wir konsumieren, nicht aus der Direktvermarktung. Das liegt an der historisch immer weiter gewachsenen Arbeitsteilung. Seit dem 19. Jahrhundert, insbesondere aber ab den 1930er bis 1950er Jahren, hat sich ein System etabliert, in dem Landwirte vor allem Rohstoffe liefern, während die Weiterverarbeitung zunehmend von der Industrie übernommen wird. Heutzutage ist es üblich, dass landwirtschaftliche Erzeugnisse zunächst mehrere Verarbeitungsstufen durchlaufen, bevor sie als fertige Produkte im Supermarkt stehen. Übrigens auch zum Vorteil vieler Verbraucher, denn Lebensmittel mit hohem Verarbeitungsgrad sind vergleichsweise günstig! Ich habe mich jedoch bewusst für einen anderen Weg entschieden: Mit unserer Marke bringen wir unsere Produkte direkt zu den Kunden, ohne die üblichen Zwischenstationen.
Sie verzichten also auf die weiterverarbeitende Industrie. Welche Vorteile hat das?
Jörgen Hemme: Wir verkürzen den Weg von der Kuh bis zum fertigen Produkt und deshalb sind unsere Produkte frischer. Das gelingt uns, weil unsere Fertigungsstätte direkt am Milch-Erzeugungsstandort liegt. Vor 15 Jahren haben wir ein kleines, hochmodernes Milchwerk aufgebaut, das technologisch auf dem neuesten Stand ist. Das beginnt bei der Qualität unserer Rohmilch, sie ist die Basis für alles. Der zweite entscheidende Faktor ist die Frische: Unsere Milch wird direkt nach dem Melken verarbeitet, ohne lange Transportwege. Das verschafft uns einen klaren Frischevorteil gegenüber der Industrie.
Unsere herausragende Rohmilch trifft auf modernste Verarbeitungstechnik, eine Kombination, die ihresgleichen sucht. Hinzu kommt, dass wir auch bei den weiteren Zutaten höchste Ansprüche stellen und nur das verwenden, was wirklich nötig ist. Diese Verbindung aus bester Milch, schnellerer Verarbeitung und sorgfältig ausgewählten Zutaten, soweit überhaupt erforderlich, macht den Unterschied.
Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider: Im Bereich Fruchtjoghurt verzeichnen wir Jahr für Jahr steigende Absatzzahlen und das, obwohl der Gesamtmarkt rückläufig ist. Zudem haben wir eine eigene Vertriebsstruktur aufgebaut, die es ermöglicht, tagesfrische Milch direkt in den Lebensmitteleinzelhandel zu bringen. Unsere besondere interne Logistik der kurzen Wege kann die Industrie in dieser Form schon lange nicht mehr abbilden, da vergleichbare Betriebe meist zehn- bis hundertmal größere Mengen produzieren. Das zeigt, wie stark die Lebensmittelverarbeitung heute auf wenige große Standorte konzentriert ist, die für breite Vertriebswege und oft auch den Export produzieren.
Ihre Produkte sind besonders und so bin ich über die Joghurts auf Sie aufmerksam geworden, weil mich der Geschmack positiv überrascht. Was ist Ihr Geheimnis?
Jörgen Hemme: In Deutschland gibt es rund 50.000 landwirtschaftliche Betriebe, die Milchtiere halten. Diese Betriebe produzieren etwa 32 Milliarden Liter Milch pro Jahr. Während die Produktionsmenge leicht steigt, sinkt die Zahl der Milchbauern kontinuierlich.
Die Direktvermarktung in der Milchbranche ist jedoch äußerst selten. Im Gegensatz zu Produkten wie Eiern, Kartoffeln oder Äpfeln, die keiner aufwendigen Weiterverarbeitung bedürfen, ist die Milchverarbeitung deutlich komplexer. Hier sind spezialisierte Fachkräfte gefragt, die über das landwirtschaftliche Know-how hinausgehen.
Wir haben diesen Schritt gewagt und uns das nötige Wissen über die Jahre aufgebaut, nicht zuletzt durch gezieltes Recruiting von Experten sowie durch starke Partnerschaften in Verarbeitung, Vertrieb und Logistik.
Gerade bei Produkten wie Fruchtjoghurt kommen Zutaten ins Spiel, die wir zwar nicht selbst herstellen, aber sorgfältig auswählen, um die Qualität unserer Endprodukte sicherzustellen.
Ihre Qualität spricht für eine Bio-Zertifiziering. Doch die fehlt, warum?
Jörgen Hemme: Besonders im Warenbereich verarbeiteter Lebensmittel führt ein intensiver Preiskampf dazu, dass Bio-Lebensmittel quasi keinen Regionalitätsanker (mehr) haben. Sichtbar am hohen Import- und Exportanteil. Kurz Regionalität und Frische gibt es in diesem Segment kaum noch. Fertigungen haben sich aus Kostengründen auf wenige Standorte konzentriert – stärker übrigens als im konventionellen Angebot.
Ihre Milch stammt von den eigenen Kühen und sie verarbeiten etwa 20.000 Liter Milch pro Tag. Und Sie bauen sogar Mais und Feldgräser als gentechnikfreies Futter an. Wir aufwendig ist der natürliche Kreislauf?
Jörgen Hemme: Das ist Landwirtschaft in ihrer ursprünglichsten Form: Wir betreiben Ackerbau, Grünlandwirtschaft und bauen überwiegend Gräser, Mais und neuerdings auch Hafer an, alles gentechnikfrei. Der Anbau und die Fruchtfolge sind komplex und erfordern Fachwissen.
Unser Futter stammt direkt von unseren Feldern und wird über die Kühe in hochwertige Milch umgewandelt. Dadurch entsteht ein geschlossener Kreislauf: Wir erzeugen nicht nur Milch, sondern auch die Grundlage für unsere eigene Marke. Nachhaltigkeit ist für uns kein Schlagwort, sondern eine logische Konsequenz aus unserer Art der Landwirtschaft seit 1589 und das ist ein echter Mehrwert für unsere Kunden. Deshalb lautet unser Hauptslogan: „Kommt vom Hof. Und von Herzen.“
Inzwischen hat in der Landwirtschaft längst die Digitalisierung Einzug gehalten. Welche digitalen Tools nutzen Sie?
Jörgen Hemme: Die Digitalisierung nutzen wir auf unserem Hof auf drei Ebenen: Zum einen setzen wir auf ein System zur Tiererkennung. Damit können wir die Milchmenge jedes einzelnen Tieres erfassen. Dieses System steuert auch die Auswahl: Nach dem Melken findet jede Kuh automatisch wieder zu ihrem ursprünglichen Platz zurück.
Die zweite, innovative Technologie stammt aus den Niederlanden. Dabei tragen unsere Kühe einen speziellen Ohrclip, der in Echtzeit wichtige Gesundheitsdaten über einen Monitor liefert. Spannend ist, wie das funktioniert: Der Clip misst die Ohrbewegungen der Tiere. Warum? Kühe sind Wiederkäuer und haben ein ausgeprägtes Kauverhalten. Sie fressen bis zu 50 Kilo Futter am Tag und kauen es mehrfach wieder. Solange dieses Verhalten im normalen Rhythmus abläuft, ist das ein Zeichen für die Gesundheit der Tiere.
Verändert sich das Kauverhalten jedoch, deutet das oft auf eine Fehlfunktion hin und das ist ein früher Indikator für Krankheiten. Der Monitor meldet sofort Auffälligkeiten, sodass wir direkt handeln können. Das Tier muss untersucht werden, um die Gesundheit der Kühe zu schützen. Uns ist das Tierwohl besonders wichtig. Die dritte Ebene betrifft die Steuerung der Fertigung im hofeigenen Werk bis hin zur Planung von Vertrieb und Logistik als ERP-System.

Foto: Diana Frohmüller
Es ist zu spüren, dass Sie mit Herzblut dabei sind. Doch was genau lieben Sie an Ihrem Beruf?
Jörgen Hemme: Hätten Sie mich vor 30 Jahren gefragt, hätte ich wohl geantwortet, dass meine Liebe zur Natur, zum Pflanzenbau und zur Tierhaltung mich am meisten erfüllt habe. Heute sehe ich das anders und das unterscheidet mich von vielen anderen Landwirten.
Ich liebe die Vertriebsarbeit. Es begeistert mich, unsere Produkte direkt zu vermarkten, vor allem, weil ich die gesamte Wertschöpfungskette überblicke und die Verantwortung für jedes Detail trage – von der Rohmilch bis zum fertigen Produkt. Diese Nähe ermöglicht es mir, unsere Qualität greifbar zu machen, etwas, das andere Akteure in dieser Form nicht leisten „können“.
Was mich besonders überrascht hat: Der Kontakt zu Menschen ist mir heute unglaublich wichtig. Früher hätte ich das nie gedacht, aber durch den direkten Vertrieb habe ich gemerkt, wie sehr mir dieser Austausch am Herzen liegt.
Ich würde mich als Selfmade-Typ bezeichnen und ich habe mir vieles selbst angeeignet, nicht unbedingt hemdsärmelig, aber mit viel Leidenschaft und Akribie für Details. Und ja, Kreativität spielt dabei auch eine große Rolle. Mein anderer Blickwinkel, gerade im Vergleich zur klassischen arbeitsteiligen Milchwirtschaft eröffnet mir neue Wege und Lösungen, die oft abseits der üblichen Denkstrukturen liegen.