Nachhaltiges Erfolgsrezept: Bürgerbeteiligung in Solingen
Solingen zählt zu den global nachhaltigen Kommunen in NRW. Ausgangspunkt ist dabei die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung, die 2015 von den UN Mitgliedstaaten beschlossen wurden. Die Ziele werden auf die lokale Ebene übertragen.
Elita Wiegand in einem Gespräch mit dem Tim Kurzbach, SPD Oberbürgermeister von Solingen.
Was ist Ihre persönliche Motivation für die Nachhaltigkeitsstrategie in Solingen?
Tim Kurzbach: Ich bin Vater von Zwillingen und ich trage damit nicht nur Verantwortung für die Zukunft meiner Kinder, sondern auch dafür, wie wir die Zukunft gestalten, welche Weichen wir für den Klimawandel stellen und was wir bereit sind dafür zu tun, eine bessere Welt zu hinterlassen.
In der Familie ist es vermutlich einfacher sich hinter die Klimaziele zu stellen. Welche Hürden mussten Sie nehmen, um die Verwaltung von der Nachhaltigkeitsstrategie zu überzeugen?
Tim Kurzbach: Die Verwaltung ist immer noch in der alten Tradition verhaftet. Doch die Ziele der Nachhaltigkeitsstrategie erreichen wir nur, wenn wir Transparenz schaffen und zum Mitmachen anregen, also die Bürgerinnen und Bürger einbeziehen. Der erste Schritt: Nach meinem Amtsantritt habe ich entschieden, dass das Agenda-Büro in meinen Ressortbereich wechselt, um zu verdeutlichen, dass es eine Aufgabe ist, die über die gesamte Verwaltung gehen muss. Doch ich wusste nicht, ob der Nachhaltigkeitsprozess gelingen wird, obwohl wir das Konzept lang vorbereitet hatten. 2017 haben wir dann zur ersten Nachhaltigkeitskonferenz in Solingen eingeladen. Ein voller Erfolg! Für mich war sehr berührend, dass Menschen den Saal stürmten, wir Stühle hinzustellen mussten und über 200 Bürgerinnen und Bürger aus allen Bereichen mit dabei waren. Das hat mir verdeutlicht, dass es ein tiefes Bedürfnis der Menschen gibt, eine Vision für die Zukunft einer Stadt zu entwickeln. Inzwischen haben wir mit der zweiten und dritten Nachhaltigkeitskonferenz ein Bewusstsein für unsere Ziele geschaffen und haben viele spannende Menschen vernetzt.
Nun sträuben sich viele Politiker dagegen, Bürger in Prozesse einzubeziehen, weil sie damit auch Macht aufgeben…?
Tim Kurzbach: Normalerweise sollte ein Stadtrat mit seinen Ausschüssen und Beiräten ein repräsentativer Querschnitt einer Gesellschaft sein. Inzwischen aber bildet sich die Breite der Gesellschaft kaum noch in den kommunalpolitischen Gremien ab. Von daher zeigt es das Defizit auf. Doch wenn die Politik offen dafür ist, sich mit den Bürgerinnen und Bürgern zu beraten, in den Diskurs zu gehen und auch Beschlüsse zu akzeptieren, ändert sich vieles positiv. Natürlich gilt das Primat der Politik, und der Rat muss am Ende zustimmen. Doch bei vielen Politikern besteht auch Angst, weil sie wissen, dass sie vieles nicht mehr bedienen, was sich die Bevölkerung wünscht.
Damit treten Sie den Beweis an, dass Bürgerinnen und Bürger die Zukunft in Solingen mitgestalten wollen. Woran scheitert es, dass die Politik keine Visionen für das Land entwickelt?
Tim Kurzbach: Ich glaube, dass es ein großer Fehler von Politik ist, dass keine Visionen entwickelt werden. Wir wissen alle, dass wir auf Dauer ökonomisch und ökologisch umsteuern und dafür Perspektiven entwickeln müssen. Dafür müssten sich Politiker von dem täglichen Pragmatismus verabschieden und aufhören zu erklären, was alles nicht geht. Vielmehr müssen sich immer mehr Menschen an allen erdenklichen Stellen in der Gesellschaft für dieses Umdenken zuständig fühlen, eigene Idee entwickeln und dafür kämpfen, dass sie umgesetzt werden.
Nun haben Sie eine Vision für Solingen entwickelt. Wie sieht die aus?
Tim Kurzbach: Die Nachhaltigkeitsstrategie ist mit Blick auf das Jahr 2030 entworfen. Wir wollen uns zum Vorreiter entwickeln und Vorbild für eine lokale und globale Kommune werden. Dazu haben wir 56 Ziele definiert und beschreiben damit das gewünschte Zukunftsbild für Solingen. Bei dem Prozess geht es uns um eine breite und dauerhafte Beteiligung. Wir haben dazwischen noch weitere Gremien eingerichtet, Steuerungsteams, etwa 40 Aktive und darüber hinaus gibt es ein Kernteam innerhalb der Stadtverwaltung. Doch wir haben intensive Debatten erlebt. Der Prozess wird hauptsächlich durch die breite bürgerliche Beteiligung getragen. Mein Ziel ist es, eine Kehrtwende einzuleiten. Alles, was ich heute entscheide, muss auf die Zukunft ausgerichtet sein.
Was haben Sie mit der Nachhaltigkeitsstrategie in Solingen bisher bewirkt?
Tim Kurzbach: Solingen ist eine wachsende Stadt. Doch in Solingen ist über die Hälfte der Fläche Wald und Natur. Wir wachsen aber gleichzeitig und wollen auch die Dynamik. Doch wie gehen wir mit dem Flächenmanagement um, wenn es um die Ausweisung von Gewerbeflächen geht? Wir wollen nicht alle grünen Wiesen bebauen, sondern bemühen uns darum, Brachflächen zu nutzen, zu sanieren und neu zu entwickeln. Das ist für uns ein großes Investment, weil wir eine Industriestadt sind und zum Teil auf Altlasten stoßen, die im Boden schlummern. Was mich besonders bewegt, ist die Sozialpolitik. In der 163.000-Einwohner-Stadt Solingen leben etwa 15.000 Menschen von Sozialleistungen wie etwa Arbeitslosengeld. Diesen Wert möchte ich unbedingt senken.
Die Stadt Solingen ist als Mitglied des europäischen Klimabündnisses verpflichtet, den CO2 Ausstoß bis 2030 um 50 Prozent reduzieren. Wie wollen Sie das Ziel erreichen?
Tim Kurzbach: Um den CO2-Ausstoß zu reduzieren, gibt es verschiedene Ansätze. Dabei setzen wir zum Beispiel auf Kraft-Wärme-Koppelung – kurz „KWK“, als eine besonders effiziente Technik zur gleichzeitigen Wärme- und Stromerzeugung. Für die Umsetzung der Klimawende spielt sie deshalb eine bedeutende Rolle und soll weiter ausgebaut werden. Der Anteil der Erneuerbaren Energien ist in Solingen noch gering. Deshalb müssen auch Photovotaik-Dachanalangen ausgebaut werden. Dabei geht es auch zum Beispiel um Fragen, wie wir in Zukunft nachhaltig und effizient bauen. Im Bereich der Mobilität ist Solingen die Stadt der O-Busse. Wir haben im Grunde schon seit den 50er Jahren einen elektrifizierten öffentlichen Nahverkehr. Und jetzt investieren wir zusammen mit der Bundesregierung 15 Millionen Euro, um zu testen, wie man den gesamten Busverkehr in einer Großstadt elektrifiziert. Unser neuer Bus „Trollino“, kann sich per Knopfdruck vom Stromnetz lösen – und trotzdem weiterfahren. Sein Akku lädt immer dann, wenn er mit der Leitung verbunden ist. Er ist einer von vier batteriebetriebenen O-Bussen („Bob“), die seit vergangenem Jahr bei uns getestet werden. Ich selbst fahre ein Elektroauto und wir wollen, dass mehr Fahrer umsteigen oder auch kleinere Autos fahren. Welche Infrastruktur benötigen wir für mehr E-Autos? Dafür gibt es ein neues Elektromobilitäts-Konzept mit Solartankstellen. Zudem boomen bei uns Fahrräder. Die Stadt hat allen Mitarbeitern der Verwaltung ein zinsloses Darlehen eingeräumt, um sich ein E-Bike zu kaufen. Die Frage ist, ob wir uns eines Tages vorstellen können, bestimmte Straßen ganz oder teilweise nur für E-Bikes auszuweisen und Rad-Schnellwege zu bauen.
Nun umfasst Nachhaltigkeit viele Bereiche. Können Sie Beispiele nennen, die vielleicht weniger spektakulär sind, aber dennoch Wirkung erzielen?
Tim Kurzbach: Mit dem Projekt „Fairtrade Town“ hat sich ein Netzwerk aus Einzelhändlern und Gastonomen gebildet. Die Beteiligten bieten zum Beispiel einen speziellen Solingen-Becher an, um die Einweg-Becher-Flut für den beliebten Coffee to go einzudämmen. Die Bürgerinnen und Bürger haben damit ihren eigenen immer wieder verwendbaren Becher, um ihn beliebig mit Kaffee aufzufüllen. In der Kantine bieten wir inzwischen faire Produkte an und wollen bei uns mehr und mehr regional und saisonal kochen. Oder wir setzen uns gegen das Insektensterben ein und wollen die Insektenpopulation und die Artenvielfalt in Solingen erhöhen und arbeiten dafür mit Schulen, Vereinen und Initiativen zusammen.
Was war bisher Ihr größerer Erfolg innerhalb des Prozesses?
Tim Kurzbach: Mich hat persönlich besonders berührt, dass wir im Stadtrat einstimmig beschlossen haben, dass Solingen eine nachhaltige Stadt wird. Dafür haben wir zwei Jahre hart am Nachhaltigkeitskonzept gearbeitet. Man hätte damit auch politisch scheitern können. Aber es ist gelungen!
Solingen: Global nachhaltige Kommune
Im Modellprojekt „Global nachhaltige Kommune in NRW“ entwickelt Solingen als eine von 15 Kommunen und Landkreisen in NRW eine kommunale Strategie zur nachhaltigen Entwicklung, die die UN-Nachhaltigkeitsziele – die 2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung – lokalanwendet und dazu nutzt, eine attraktive, verantwortungsvolle und zukunftsfähige Stadtentwicklung voranzutreiben.
- Solinger Nachhaltigkeitsstrategie – Ergebnisse des zweijährigen Prozesses
www.solingen.de/de/inhalt/gemeinsam-fuer-die-zukunft-wirken-nachaltigkeitsstrategie
- 3. Nachhaltigkeitskonferenz mit Start in die Umsetzung
www.solingen.de/de/inhalt/3.-solinger-nachhaltigkeitskonferenz
- Kurzfilm „Umschalten für Morgen!“ – Nachhaltige Entwicklung aus der Perspektive junger Menschen
www.solingen.de/de/inhalt/umschalten-fuer-morgen/