Der unterschätzte Hemmer im Unternehmen
Wie Angst die Zuversicht und den Erfolg verhindert
von Oliver Schumacher*
Oliver Schumacher
Die Krisen der letzten Jahre haben uns zu schaffen gemacht, nicht nur wirtschaftlich betrachtet, sondern auch emotional. Wir leben in einer Angstkultur, die uns hemmt, die uns (zu) wenig zuversichtlich in die Zukunft blicken lässt, die unser Denken und Handeln in jedem Moment einschränkt – persönlich und unternehmerisch. Als die Uni Kiel im Jahr 2015 anfing, die sogenannte kultivierte Angst (Anxiety Culture) zu erforschen[1], ahnten die Wissenschaftler sicher nicht, wie konkret sich die Ergebnisse und Auswirkungen eines Tages in unserem Alltag widerspiegeln.
So manche Führungskräfte schlagen die Hände über den Kopf zusammen, wenn sie plötzlich mit vollendeten Tatsachen konfrontiert werden: Der Mitarbeiter kündigt anscheinend aus heiterem Himmel. Ein Vertriebsmitarbeiter hat monatelang Schwierigkeiten mit einem wichtigen Kunden vertuscht. Ein Kollege sollte etwas zu einem Stichtag abliefern, hat aber noch nicht einmal angefangen, weil er nicht wusste, wie er die Aufgabe erledigen sollte. Schnell wird gefragt: „Warum hast du denn nichts/nicht eher etwas gesagt?“. Die kleinlaute oder sogar oft trotzige Antwort ist dann: „Ich wusste nicht, wie ich es sagen sollte!“ oder aber „Ihr hättet das ja auch merken können/müssen“.
„Angst essen Seele auf“
Nicht mehr viele werden sich an den gleichnamigen Titel des berühmten Films von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1974 erinnern. Das Melodram über die Unterdrückung und Ausgrenzung von Gastarbeitern in den frühen 1970er Jahren zeigt im Großen und Ganzen vor allem eines auf: Welche Kraft Emotionen haben und wie oben genannten Bedenken, hervorgerufen und verbunden mit tiefen, negativen Gefühlen wie beispielsweise Angst (vor Konsequenzen bzw. dem Gefühl als schwach/unsicher wahrgenommen zu werden) uns lähmen können.[2] Eine Frage bleibt jedoch im Raum: Was kann man konkret machen, damit Mitarbeiter sich wirklich trauen, rechtzeitig Dinge von sich aus zu thematisieren, die sie belasten, um frühzeitig einzugreifen?
Tabuthema Angst
„Was sollen meine Kollegen von mir denken, wenn ich sage, dass ich ein Problem habe?“ Ein Gedanke, der so manchem Mitarbeiter schlaflose Nächte bereitet. Wer sich vor einer Aufgabe ängstigt, verliert seine Souveränität. Das Selbstvertrauen schwindet. Ein Gefühl von Hilflosigkeit tritt ein. Viele versuchen dennoch zu agieren bzw. zu reagieren, oft fehlt ihnen dann aber die Ausdauer. Manche sind nahezu starr vor Angst, wenn sie beispielsweise potenzielle Kunden akquirieren sollen. Sie trauen sich nicht zum Telefon zu greifen. Angstfantasien machen sich breit. Und so manch ein Vertriebler findet dann oft gut klingende Gründe, warum gerade jetzt kein guter Zeitpunkt für die Akquise ist. Argumente wie „Ich habe keine Zeit für Akquise, ich muss mich um meine Stammkunden kümmern“ oder „Akquise ist nicht meine Aufgabe/nicht mehr zeitgemäß. Wir sollten uns auf Social Media präsentieren oder wenigstens Anzeigen schalten!“ haben schon viele Vertriebsleitende gehört.
Was den einen stresst und „fertigmacht“, lässt manch andere relativ kalt. Und umgekehrt. Es gibt eine Vielzahl von Ängsten und Stressoren:
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- Öffentlich vor einer Gruppe reden müssen. Beispielsweise, um sich als neues Teammitglied vorzustellen oder vor einer Kundengruppe einen Vortrag zu halten.
- Keine Reaktionen auf eine Handlung oder Äußerung, weil man dann nicht weiß, woran man ist.
- Angst vor dem angestarrt bzw. beobachtet werden. Beispielsweise bei Rollenspielen bei einem Seminar oder bei einem Kundengespräch, wenn noch Andere zuhören (könnten).
- Nicht wagen, einen Raum oder Ladengeschäft zu betreten, weil man nicht weiß, was einen erwartet.
- Angst vor Vorgesetzten bzw. Ranghöheren, weil diese, selbst wenn man per du ist, stets die hierarchische Macht haben.
- Leistungsangst im Sinne von „Wenn ich das und das nicht erreiche, habe ich ein Problem“.
- Kontakt- und Austauschsituationen, beispielsweise auf privaten oder auch geschäftlichen Veranstaltungen. Was soll man nach der Begrüßung sagen? Was macht man, wenn man nichts mehr zu sagen hat? Oder vielleicht einfach nicht interessant genug für die Anderen ist?
- Sorge nach dem ersten Kontakt, diesen beim darauffolgenden Treffen, ob real oder virtuell, zu enttäuschen. Schließlich könnte ja das Interesse an der eigenen Person bald erschöpft sein.
- Angst vor Entlarvung. Wenn man beispielsweise dem Kunden zu viel versprechen muss, um den Termin oder den Auftrag überhaupt zu bekommen, aber genau weiß, dass man diese Zusagen später nicht erfüllen kann.
- Angst aufgrund eines peinlichen Geheimnisses und durch dessen Aufdeckung als Widernatürlich dazustehen.
- Angst sich behaupten zu müssen: Eigene Rechte verteidigen, eigene Wünsche, Bedürfnisse, Meinungen formulieren. Dazu gehört sowohl das Nein sagen selbst, als auch Wünsche Anderer abzuschlagen.
Es gibt einige Erkennungsmerkmale für Außenstehende, dass jemand Angst hat: Manche Menschen werden in Gegenwart von anderen Personen, beispielsweise auf einem Empfang, besonders aktiv, was sich durch schnelles Sprechen oder hektische Bewegungen zeigt. Andere sind eher passiv, um ihre Ängste oder vielmehr ihre eigenen „komischen“ Gefühle zu überspielen. Andere werden sehr ungeschickt. Manche versuchen krampfhaft die Kontrolle zu behalten – andere resignieren. Wer Schüchtern ist, wird viel Energie darauf verwenden, Situationen, die ihm schwerfallen, zu vermeiden. Viele wollen sich in „schwierigen“ Lagen einfach auflösen bzw. unsichtbar machen und verschieben dann notwendige, vermeintlich unangenehme Aufgaben – oder sagen auch zugesagte Termine kurzfristig ab.
Der innere Dialog
Kernproblem ist, dass viele sich selbst bzw. ihre eigene Leistung nicht anerkennen, ja sogar negativ sehen, selbst dann, wenn andere sagen, dass das anders sei. Darauf folgen eine systematische Selbstabwertung und Verallgemeinerung. Auch ein Schweigen ist beispielsweise für viele sehr schwer auszuhalten. Denn das Schweigen des Gesprächspartners wird oft als Rückzug oder Zeichen geringer Wertschätzung interpretiert. Hat das Gefühl erst einmal Raum gewonnen, breitet sich die Angst in alle Richtungen aus:
- Man hat vorher Angst, weil es schiefgehen könnte.
- Währenddessen hat man Angst, weil der andere ja die Angst merken könnte.
- Danach fürchtet man die Konsequenzen aus seiner schlechten Leistung.
Solange der Angst nichts entgegengesetzt werden kann, umso intensiver werden Angstgefühle. Angst entsteht auch aus Überforderung: Schaffe ich das wirklich? Häufig wird das eigene Scheitern erwartet, was zu einem Vermeidungsverhalten führt. Wer also keine Selbstwirksamkeitserwartung an sich hat, damit ist die Fähigkeit gemeint, aus eigener Kraft gewisse Handlungen herbeizuführen, um bestimmte Ziele zu erreichen, wird schnell Angst bekommen.
Problematisch ist, dass Außenstehende die Angst ihres Gegenübers nicht immer und gleich sehen können. Ein Rollstuhlfahrer bekommt eventuell die Unterstützung, die er braucht – weil sein Handicap offensichtlich ist. Die Angstgefühle hingegen sind für Außenstehende meist nicht offensichtlich. Der oft über Jahre kultivierte sorgenvolle Gedanke „Was denken die anderen?“ hat viele dazu gebracht, ihre Gefühle nach außen im Sinne eines Schutzpanzers im Griff zu haben.
Ein kleiner Tipp:
Häufig fallen uns Situationen leichter, wenn man sich die Angst eingesteht. Wenn niemand einem die Gefühle ansieht, kann auch niemand Rücksicht auf sie nehmen. Darum sollten Betroffene zuallererst Rücksicht auf sich selbst nehmen.
Exkurs in die Praxis: Ängste aus Verkäufersicht
Menschen, die schon länger im Verkauf sind, haben aufgrund ihrer Erfahrung vielleicht weniger Ängste als Neulinge oder Personen, denen Werte wie Ehrlichkeit und Respekt enorm wichtig sind. Letztendlich haben Ängste natürlich auch etwas mit der eigenen Persönlichkeitsstruktur zu tun. Unabhängig davon geht es im Business aber vorrangig um Umsatz – zum persönlichen Vorteil des Verkäufers oder des von ihm vertretenen Unternehmens. Doch gerade Verkaufen ist etwas, das viele Menschen nicht wollen, weil sie es negativ assoziieren. Ob schlechtes Image oder Ängste … nichtsdestotrotz ist der Verkauf entscheidend für den Erfolg eines Unternehmens. Denn schlussendlich zahlen die Kunden das Gehalt aller Mitarbeitenden eines Anbieters – nicht nur das der Verkäufer. Deren mögliche Ängste sind ebenso vielfältig wie die täglichen Herausforderungen im Vertrieb:
- Statt aktiv zu verkaufen, zieht man es vor, lediglich zu beraten. Man will ja nicht aufdringlich sein. So fehlt dann der Mut, aktiv nach dem Auftrag oder dem Abschluss zu fragen.
- Die Angst vor Ablehnung hält viele von der Kundenakquise ab, oder endlich einmal ehemalige Kunden zu reaktivieren. Was sollen die denn auch denken, wenn man sich da plötzlich (wieder) meldet?
- Man hat Sorge, dass zu großer Erfolg negative Konsequenzen mit sich bringt – etwa Neid, Einsamkeit oder das Gefühl, trotz allem nicht wirklich glücklich zu sein.
- Aus der Angst, nicht gut genug zu sein, entsteht ein ständiger Drang nach Perfektion.
- Man scheut sich davor, sichtbar zu werden und sich sowie das eigene Angebot nach außen zu präsentieren. Schließlich könnte die Konkurrenz ja Gegenmaßnahmen ergreifen.
Die Angst vor dem Scheitern wächst – insbesondere, wenn baldige Verkaufserfolge ausbleiben und die Existenz auf dem Spiel steht. Kleine Misserfolge steigern häufig die Versagensangst. Je größer der Erfolgsdruck, desto stärker steigt die Nervosität an. Mit zunehmender Nervosität steigt die Angst vor dem Scheitern. Je größer die Angst vor dem Scheitern ist, desto wahrscheinlicher ist der Misserfolg. Je negativer die Erfolgsquote ausfällt, desto größer wird die Angst vor dem erneuten Scheitern. Mit zunehmendem Fortschreiten des Negativkreislaufs steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Verkäufer als Bittsteller auftritt, zu schnell Rabatte gibt und sein Selbstbewusstsein sinkt. Wenn nun die Führungskraft den Verkäufer unter Druck setzt oder sich der Verkäufer selbst, so ist dies auch kein Ausweg! Druck führt immer zum Gegendruck bzw. Rückfall. Entweder aus Sicht des Betroffenen auf bewährte Strategien oder gar zu panischer Flucht oder ohnmächtiger Erstarrung.
Wie Mitarbeiter mutiger werden: 8 Hacks
Folgende Maßnahmen helfen, die Kommunikation innerhalb des Unternehmens zu erleichtern und Mitarbeiter mutiger zu machen:
#1 Keine „Schönwettermeetings“
In zahlreichen Meetings wird häufig nur das „was“ besprochen, eher selten das „wie“. Der Fokus sollte also nicht auf die Informationsvermittlung gelegt werden, sondern auf die Umsetzung. Wichtig ist, dass gemeinsam besprochen wird, was Negatives bei der Umsetzung passieren könnte – und wie diese Situationen dann bewältigt werden können.
#2 Regelmäßige „Wasserstandsmeldungen“
Getreu dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ sollte beispielsweise wöchentlich geprüft werden, ob alles im Plan ist, oder ob es Umsetzungsprobleme gibt, um rechtzeitig einzugreifen.
#3 Lieber „unter Vier-Augen“
Führungskräfte sollten Gespräche öfter unter vier Augen halten. Denn wenn es mal Probleme gibt, dann fällt es Mitarbeitern meist leichter, diese nicht vor ihren Kollegen zu thematisieren, sondern persönlich und damit vertraulich.
#4 Motto „Scheiter heiter“
Ein Leben ohne Fehler ist eine Illusion. Darum sollte vielmehr darauf geachtet werden, dass aus möglichen Verhaltensweisen, die nicht zu Erfolg geführt haben, alle etwas lernen können. Wenn diese aber vertuscht werden, dann werden Fehler und der offene Umgang damit noch mehr tabuisiert und zwingen so manche unbeabsichtigt, solche Fehler selbst auch noch einmal zu machen. Würde man offener über seine Ängste sprechen, so wie man beispielsweise über einen verknacksten Fuß spricht oder einen Muskelkater, dann wäre dies ein erster wesentlicher Schritt Richtung Heilung. Denn beim Ansprechen entsteht das Gefühl bzw. die Erkenntnis, dass man nicht der einzige Mensch mit Ängsten ist, sondern dass es andere gibt, die diese auch erlebt und vielleicht sogar überwunden haben.
#5 Training und fachlicher Austausch
Wer regelmäßig Ideen bekommt, wie er seine Aufgaben noch besser bewältigen kann, wird zwangsläufig mutiger und zuversichtlicher.
#6 Erwartungsmanagement
In vielen Unternehmen stimmt das Selbst- mit dem Fremdbild der einzelnen Mitarbeiter nicht überein. Es ist nicht selten, dass gerade „schwache“ Mitarbeiter sich für ganz toll und unersetzlich halten, wohingegen „gute“ Mitarbeiter sehr selbstkritisch sind und oft zweifeln. Mit der richtigen Balance zwischen Fordern und Fördern sollten diese Lücken zunehmend geschlossen werden.
#7 Vorbereitung ist alles
Wer sich vorbereitet und gewisse mögliche Situationen geistig vorwegnimmt, hat gute Chancen, besser zu performen als andere.
#8 Positiver innerer Dialog
Es ist entscheidend, wie man zu sich selbst spricht. Hilfreiche Gedanken, um mit aufkeimenden Ängsten beispielsweise bei der Akquise umzugehen, sind: „Jetzt bin ich neugierig, was ich gleich für einen Menschen kennenlerne!“, „Keinen Auftrag habe ich schon – ich kann mich also nicht verschlechtern!“ oder „Ich freue mich darauf, etwas Neues ausprobieren, mal sehen, wie diese Formulierung ankommt!“, „Falls mir jemand anmerkt, dass ich unter Stress stehe, so kann ich es meinem Gesprächspartner auch jederzeit sagen. Vielleicht bin ich ihm dann sogar noch sympathischer.“ Auch sollte man sich vor Verallgemeinerungen schützen. Statt „Ich kann nicht akquirieren!“ besser „Ich kann noch nicht akquirieren!“
Jeder Mensch hat Jahre dazu gebraucht, um so zu werden, wie er jetzt ist. Wer sich allerdings zu hohe Ziele setzt und von jetzt auf gleich deutlich mutiger werden will, überfordert sich meist. Besser ist es, gewisse Aufgaben anzugehen, um diese dann zunehmend vom Schwierigkeitsgrad her zu steigern. Auch eine kindliche Neugier im Sinne von „Mal gucken, was passiert. Entweder lerne ich, oder ich komme meinen Zielen näher“ hat schon bei einigen einen gewissen „Druck aus dem Kessel genommen“. Aber das Allerwichtigste ist: Am Ball bleiben. Beispielsweise mit Gleichgesinnten. Denn wer weiß, dass er/sie mit seinen Problemen nicht alleine ist, bekommt ein ganz wichtiges Feedback, nämlich das, normal zu sein.
[1] https://www.uni-kiel.de/de/universitaet/detailansicht/news/202-angstkultur
[1] https://mutmacher-magazin.de/angst-essen-seele-auf
Fotos: Oliver Schumacher, Freepik