Buchtipp: Verlust von Andreas Reckwitz

von ZukunftsMacher Helmut Scheel

Andreas Reckwitz‘ neuestes Werk „Verlust“ trifft den Nerv der Zeit und bietet eine tiefgehende Analyse der Verlusterfahrungen in der modernen Gesellschaft. Als Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie legt der Autor mit diesem über 460 Seiten starken Buch einen wichtigen Beitrag zur soziologischen Diskussion vor, der zur Reflexion über die Schattenseiten des Fortschritts anregt.

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Andreas Reckwitz, deutscher Soziologe und Kulturwissenschaftler

Ein wichtiges Buch zur rechten Zeit

„Verlust“ erscheint in einer Zeit, in der die Gesellschaft zunehmend mit Verlusten konfrontiert wird – sei es durch den Klimawandel, wirtschaftliche Krisen oder soziale Umbrüche. Dem Soziologen gelingt es, diese komplexen Themen in einem umfassenden Rahmen zu betrachten und die Leser dazu anzuregen, über die Auswirkungen von Verlusten auf das individuelle und kollektive Leben nachzudenken. Er zeigt auf, dass „das Ziel der Modernisierung Verlustreduktion“ ist und „ihr Ideal eine Gesellschaft der möglichst flächendeckenden Verlustfreiheit“. Doch dieses Streben nach Verlustfreiheit führt paradoxerweise nicht zu Stabilität, sondern verstärkt die Angst vor Verlusten noch weiter.

Die Betrachtung des Verlustes als Schlüssel zum Verständnis der Moderne

Der Autor zeigt, dass Verluste nicht nur negative Erfahrungen sind, sondern auch eine Chance bieten, die Mechanismen der modernen Gesellschaft besser zu verstehen. Indem er den Fokus auf die „dunkle Seite“ des Fortschritts legt, ermöglicht er es den Lesern, die positiven Aspekte klarer zu erkennen und zu schätzen. Er erklärt, dass „im Kern des Fortschrittsnarrativs […] ein zukunftsorientiertes Zeitregime und eine kognitive wie normative Erwartungsstruktur prinzipieller Verbesserung“ zu finden ist. Doch diese Erwartungsstruktur hat eine Kehrseite: Die moderne Gesellschaft neigt dazu, Verluste als individuelle Probleme zu interpretieren, anstatt sie als kollektive Phänomene anzuerkennen. „Das kulturelle Modell der emotionalen Ungebundenheit […] lässt die Verluste ins interpretative Nichts fallen“. Dadurch bleibt wenig Raum für die gesellschaftliche Verarbeitung von Verlusten.

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Die paradoxe Logik der Verlustfreiheit

Ein besonders aufschlussreicher Aspekt des Buches ist die Analyse der modernen Verlustvermeidung. Der Soziologe argumentiert, dass die Spätmoderne eine Gesellschaft der „Verlustfreiheit“ anstrebt, in der alles Ersetzbarkeit und Kompensation unterliegt: „Was Subjekte zunächst als Verlust betroffen hat, kann im Idealfall nach kurzer Zeit komplett an Relevanz einbüßen, wenn reibungslos etwas anderes an seine Stelle tritt.“ Diese Denkweise durchdringt nicht nur Wirtschaft und Technologie, sondern auch zwischenmenschliche Beziehungen. Die Idee der vollständigen Verlustfreiheit bleibt jedoch eine Illusion, die immer wieder an der Realität scheitert.

Der Drahtseilakt der Moderne – ein pessimistischer Ausblick?

In seinem Ausblick am Ende des Buches stellt Reckwitz Kants „Was darf ich hoffen?“ ein „Was muss ich fürchten?“ entgegen. In diesem letzten Abschnitt betrachtet er die Moderne als einen Drahtseilakt über dem Abgrund und stellt drei Zukunftsszenarien vor: die Weiterführung der Moderne, ihren Zusammenbruch oder ihre Reparatur. Dieser düstere Ausblick zeigt, dass die Moderne sich an einem kritischen Punkt befindet, an dem ihr Fortbestand keineswegs garantiert ist.

Kritische Punkte

Der Begriff „Spätmoderne“ – ein selbst widersprüchlicher Verlust?

Ein kritischer Punkt ist die Verwendung des Begriffs „Spätmoderne“ durch den Soziologen. Während er diesen Begriff analytisch für bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen nutzt, enthält „spät“ eine zeitliche Begrenzung – und damit eine Verlusterwartung. In einem Buch über Verlust ist dies eine bemerkenswerte Ironie. Denn wenn wir uns bereits in der Spätmoderne befinden, was kommt danach? Ist die Moderne dann zu Ende? Diese Endlichkeitsannahme könnte vermieden werden, indem man stattdessen Begriffe wie „kapitalistische Moderne“ verwendet, die nicht implizit ein nahendes Ende suggerieren.

Verlust der Demokratie – der Einfluss des Kapitals

Der Autor analysiert die Verbindung von Populismus und Verlusterfahrung sehr treffend: „Den spätmodernen Populismus kann man jedoch nur angemessen begreifen, wenn man in seinem Kern eine verlustbezogene Politik erkennt, die mit Verlustidentitäten und Verlusteffekten arbeitet“. Doch ein entscheidender Faktor bleibt unterbeleuchtet: der Einfluss des Kapitals auf die Demokratie. Während der Populismus oft als Reaktion auf empfundene Verluste verstanden wird, nimmt die wirtschaftliche Macht von Großkonzernen stetig zu. Eine stärkere Einbeziehung dieses Aspekts hätte die Analyse des Autors noch prägnanter gemacht.

Verlustschub durch die Coronapandemie

Ein weiteres Defizit des Buches ist das Fehlen einer ausführlichen Analyse der Coronapandemie als Verlustereignis. Reckwitz beschreibt zwar verschiedene historische Verlustschübe, aber die Pandemie wird kaum berücksichtigt. Dabei hat sie nicht nur kurzfristige soziale und wirtschaftliche Auswirkungen, sondern könnte langfristig tiefgreifendere Spuren hinterlassen als frühere Krisen, etwa die Finanzkrise von 2008. Eine stärkere Auseinandersetzung mit der Pandemie und ihren gesellschaftlichen Folgen hätte die Aktualität des Buches noch gesteigert.

Fazit

Trotz einiger Kritikpunkte ist „Verlust“ ein bedeutendes Werk, das die Diskussion über die Zukunft der modernen Gesellschaft bereichert. Die Analyse von Reckwitz ist tiefgründig und regt zum Nachdenken an. Besonders seine Beobachtungen zur paradoxen Logik der Verlustfreiheit und zur Individualisierung von Verlusten sind wertvolle Denkanstöße. Das Buch ist eine empfehlenswerte Lektüre für alle, die die Mechanismen unserer Zeit besser verstehen wollen – und bereit sind, über das Unvermeidliche des Verlustes nachzudenken.

Fotos: Wikipedia, Suhrkamp Verlag 

Andreas Reckwitz

Andreas Reckwitz ist ein deutscher Soziologe und Kulturwissenschaftler. Er ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Reckwitz hat maßgeblich die Entwicklung der Praxeologie als umfassende Sozial- und Kulturtheorie vorangetrieben: Es ist eine Perspektive, die auch seine Arbeiten zur Subjektivierung, Kreativität, Singularisierung des Sozialen und zur Soziologie der Verluste grundiert. Er wird zu den einflussreichsten deutschsprachigen Soziologen der Gegenwart gezählt. Seine Bücher erscheinen in 25 Sprachen.

Buchtipp: Verlust

Verlust-scaled ZukunftsMacher Buchtipp: Verlust von Andreas Reckwitz

Verlust | Ein Grundproblem der Moderne von Andreas Reckwitz

Erschienen im Suhrkamp Verlag

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