Digitale Transformation: Wahn, Wirklichkeit und wie Sie es richtig machen
Von Ömer Atiker
Über die digitale Transformation wird viel geschrieben und noch mehr geredet. Doch was damit eigentlich genau gemeint ist, ist nicht wirklich klar. Jeder „Experte“ (jemand, der ein Tablet halten kann und das Wort „Disruption“ nutzt, ohne rot zu werden) hat dazu eine eigene Meinung. Und findet das eigene Feld am Wichtigsten und Digitalsten. Was ist denn nun das Wichtigste?
Damit nicht genug: Zwischen Blockchain und Big Data wird fast immer vergessen, was das für den einzelnen Mitarbeiter bedeutet. Zehn digitale Vordenker in einem Innovation Lab in Berlin werden nicht helfen, wenn 1.000 „normale“ Mitarbeiter nicht wissen, was sie tun sollen. Lassen Sie uns die Zeit nehmen, um über Sinn und Unsinn der Digitalisierung zu sprechen – und wie wir sie im Alltag wirklich nutzen.
Definition: Digitale Transformation
Transformation, das ist die tiefgreifende Veränderung von Unternehmen. Unternehmen, das sind Organisationen – also mehrere Menschen, die zusammenarbeiten, um Werte zu schaffen und diese zu verkaufen. Ohne erkennbaren, verkaufbaren Wert ist Ihr Unternehmen tatsächlich wert-los. Und wer entscheidet, was etwas wert ist (und wie viel)? Nur der Kunde! Wenn der dafür nicht zahlen möchte, hat Ihr Tun keinen (kommerziellen) Wert.
Digitale Transformation bedeutet, dass wir die Chancen der Digitalisierung nutzen, um mehr Wert für Kunden zu schaffen. Ganz einfach, oder? Nur in der Praxis ziemlich anspruchsvoll. Wenn Sie es ernst meinen, kann das Ihr Unternehmen auch völlig auf den Kopf stellen. Sie brauchen auf einmal mehr IT-Know-how. Sie bieten mehr Services an, nicht nur Produkte. Sie arbeiten weit enger mit Ihren Kunden zusammen, als Sie es gewohnt sind. Ihre Organisation muss möglicherweise komplett umgebaut werden, weil die alten Abteilungen gar nicht in der Lage sind, diese neuen Werte zu liefern.
Denken Sie mal an Netflix
Das war mal ein DVD-Versand, der später auf Streaming umstellte. Ein großer Schritt, vom Logistiker zum Service-Provider. Aber dann erkannten die Menschen dort, dass sie mit all den Zuschauerdaten sehr gut wissen, wer was wann gerne anschaut. Warum die Daten nicht nutzen und selbst Serien produzieren? Gesagt und, wie Sie wissen, sehr erfolgreich getan. Aber könnte das Ihrem Unternehmen passieren? Dass ein Logistiker zum Filmstudio wird? Und das nur, weil man sich radikal daran orientiert, was der Kunde wirklich will.
Das passiert auch normalen Unternehmen, die sich „nur“ vom Hersteller zum Lösungsanbieter wandeln, auf einmal Service liefern müssen statt nur Produkte. Ja, da kommt etwas auf Sie zu. Also fangen wir an!
Statusbericht: Hier stehen Sie heute
Wenn Unternehmen es ernst meinen, lassen Sie gerne als erstes eine Bestandsaufnahme erstellen. Mit wohlklingenden Namen wie Digital Readyness Assessment oder Digital-Maturity-Messung soll erfasst werden, wo man heute steht und wo die Lücken sind, die man zum Erfolg überwinden muss.
Nun, wenn Sie dafür mehr als einen Tag brauchen, verschwenden Sie Ihre Zeit. Eine ausgefeilte Tabelle aller Projekte mit Zielerreichungsgrad und Erfolgswahrscheinlichkeit bringt Ihnen – rein gar nichts. Was sollen Sie damit anfangen? In den meisten Firmen gibt es digitale Initiativen, aber meist nicht koordiniert oder auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet. Bevor Sie also schauen, was Sie tun, sollten Sie sich fragen, wo Sie überhaupt hinwollen. Sie brauchen ein Ziel und eine Strategie.
Und natürlich eine Vorstellung davon, wo Sie gerade stehen. Das geht am besten mit den „Drei Blickwinkeln“: Selbstbild, der Eindruck der Kunden und die Einschätzung von Dritten.
Füllen Sie das einfach mal aus. Dann haben Sie eine sehr gute Vorstellung, wo Sie sich im Markt wirklich befinden. Und können darauf Ihre Strategie aufbauen.
Digitale Strategie: Was es ist, was es nicht ist und wie Sie eine Strategie bauen, die Ihnen wirklich hilft
Es beginnt mit einem Ziel. Wo wollen Sie in ein paar Jahren sein? Welche Rolle wollen Sie für den Kunden einnehmen? Wenn Sie wissen, wo Sie heute stehen (siehe oben), können Sie einschätzen, wie weit der Weg zum Ziel noch ist.
Hierzu eine Warnung: Zu viele Unternehmen denken, dass Transformation nur ein Projekt ist, das man eines Tages abschließt. Danach ist man digitalisiert und kann zum Tagesgeschäft zurückkehren. Nein! Sie werden nicht nur Ihr Unternehmen ändern müssen, sondern auch die Art und Weise, wie Sie denken und Geschäfte machen. Beides werden Sie immer wieder anpassen und erneuern müssen. Das gilt auch für Ihre Ziele und die Strategie. Der Markt ändert sich, die Technologien, die Kunden haben neue Ideen und Bedürfnisse… Digitale Transformation ist kein Projekt, sondern eine neue Art, wie ein Unternehmen funktioniert.
Zurück zur Strategie. Basis ist immer der Kunde. Der entscheidet, was Ihre Leistung wert ist. Dann kommt die Rolle, die Ihr Unternehmen für den Kunden spielt – und die Alternativen, die er hat. Hier geht es oft schon los: Die Alternative zu einer Datenbank ist nicht etwa das Produkt eines anderen Anbieters, sondern – Excel! Sie ahnen ja gar nicht, wie viele Daten auch heute noch in Tabellen verwaltet werden. Das ist, trotz aller Nachteile, einfach, schnell und flexibel. Also, welche Bedeutung hat Ihr Angebot im Leben Ihrer Kunden?
Wenn Sie das aufmalen, sieht das Ganze etwa so aus:
Wenn Sie die Bedeutung geklärt haben, überdenken Sie Ihr Angebot: Was genau müssen Sie an Produkten und Dienstleistungen anbieten? Dafür brauchen Sie entsprechende Ressourcen, ob Personal, Maschinen oder Lieferanten. Zum anderen müssen Sie sehr bewusst gestalten, was Ihr Kunde mit Ihnen erlebt: die Customer Experience. Das geht vom Abnehmen des Telefons bis zur Formulierung Ihrer Mahnschreiben. Um das erfolgreich in den Alltag zu bringen, brauchen Sie die richtige innere Haltung, das Mindset.
Wenn Sie diese Karte ausgearbeitet haben (was ebenfalls in einem Tag gut zu tun ist), können Sie sich Gedanken machen, wo Sie was wie ansetzen, um dort mehr Wert zu schaffen.
Denken Sie weiter: das digitale Spiegelei
Die meisten Unternehmen, gerade im deutschsprachigen Raum, sind hervorragend in der Optimierung. Das Bestehende noch etwas besser zu machen – schneller, leiser, leichter – können wir wie kaum ein anderer. Aber das ist nicht genug! Denken Sie an das Netflix-Beispiel oder an den Brandmelder-Hersteller Hekatron, der in Zukunft keine Brandmelder verkaufen will, sondern den kompletten Brandschutz für Gebäude. Wir sollten lernen, in drei Kreisen zu denken: dem „Digital Circle“.
Diese drei Kreise werden auch liebevoll das „digitale Spiegelei“ genannt. Innen die Verbesserungen, die wir so gut kennen und können. Wer weiter denkt, kommt zur Erweiterung, neue Produkte, neue Dienstleistungen, neue Bezahlformen (wie Abonnement statt Kauf) – neue Kombinationen, um unser Angebot sinnvoll zu erweitern. Der äußere Kreis ist das Entdecken. Was gibt es noch, was wir anbieten können, bestehenden Kunden oder ganz neuen Märkten? Das Gelbe vom Ei ist hier am Rand zu finden, nicht in der Mitte. Es hilft uns, etwas weiter zu denken als nur bis zur Kante des eigenen Schreibtisches.
Wie Sie Mitarbeiter in Bewegung bekommen
So, wenn Sie Ziele und Strategie haben, müssen Sie nur noch loslegen. Leider wollen nur oft die Mitarbeiter nicht. Die haben Angst vor der Veränderung, Angst um ihren Job und selbst, wenn sie wollen, gar keine Zeit für neue Projekte. Was Sie brauchen, ist ein Kulturwandel: ein kleines Wort, mit großen Konsequenzen.
Sie müssen „nur“ dafür sorgen, dass sich die Arbeit konsequent an den Bedürfnissen der Kunden orientiert. Das bringt einen Riesenvorteil, denn 80-90 Prozent aller Projekte beschäftigen sich mit internen Fragen: Wie kann ich die Kundendatenbank in Form bekommen? Wie verbessere ich die Prozesse? Wie kriege ich Industrie 4.0 ins Unternehmen? Das ist alles nur ich, ich, ich. Wo bleibt da Ihr Kunde? Sie sollten alle Ihre Aktivitäten bewerten, inwieweit sie einen für den Kunden erkennbaren Mehrwert schaffen. Oder kurz: Wenn der Kunde davon nichts merkt, fliegt es raus. Sie werden sehen: Auf einmal haben Sie viel mehr Zeit.
Die andere Seite ist die Relevanz für den Mitarbeiter. Der fragt sich immer: „Was hat das mit mir zu tun?“ Wenn er erkennen kann, dass sein Beitrag wichtig ist, weil er dem Kunden etwas bietet, dann versteht er, warum sein Tun notwendig und sinnvoll ist. (Dabei hat er auch das Recht, die Aktion zu hinterfragen: „Ist das wirklich spürbar besser für den Kunden?“)
Mit Schwung in die digitale Transformation
Wenn Sie das alles beieinanderhaben, Ihre Ziele, die Strategie und die Ausrichtung am Kunden: Dann können Sie loslegen. Dann können Sie selbst beurteilen, was aus dem bunten Strauß der digitalen Möglichkeiten wirklich Mehrwert bietet und Ihr Unternehmen nach vorne bringt. Es gibt nicht „die“ Transformation. Es gibt nur Ihren ganz eigenen Weg in eine erfolgreiche Zukunft. Viel Erfolg dabei!
Fotos: Ömer Atiker und Simone Scardovelli