Buchtipp
Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt
von ZukunftsMacher Helmut Scheel
Das Buch „Migration. 22 populäre Mythen und was hinter ihnen steckt“ ist ein 500 Seiten starkes Werk. Der Autor Hein de Haas ist einer der bekanntesten Migrationsforscher der Welt. Er ist Professor für Soziologie und Migration.
Was bedeutet eigentlich Migration?
In der politischen Diskussion entsteht der Eindruck, dass das drängendste Problem Deutschlands die Einwanderung ist. Deshalb ist es zunächst hilfreich, den Begriff zu erklären. De Haas erklärt gleich zu Anfang die Definition des Wortes. Migration beginnt bereits beim dauerhaften Ortswechsel. Der Ortswechsel innerhalb eines Landes ist die häufigste Form. In dem Buch durchleuchtet er jedoch die internationale Migration, also der dauerhafte Wechsel der Nation mit einem Wohnort in dem Land. Dauerhaft bedeutet jedoch nicht lebenslang, sondern eine längere Zeitspanne.
Polarisierte Migrationsdebatten
Wir erleben derzeit polarisierte Migrationsdebatten, Mythen, Falschmeldungen. Doch die Welt steckt nicht in einer Migrationskrise. Es hilft, sich zunächst einmal die Geschichte der Migration vor Augen zu führen: Allein zwischen 1846 und 1924 verließen rund 48 Millionen Europäer den Kontinent. Mitte des 20. Jahrhunderts, nach dem Zweiten Weltkrieg, waren die Flüchtlingszahlen in Europa höher als heute.
Der Forscher zeigt auf, wie sich die Migrationsbewegungen über eine lange Zeitspanne entwickelt hat. Er belegt darin eine durchschnittliche Migrationsrate gemessen an der Weltbevölkerung von durchschnittlich drei Prozent. Zudem bemerkt er, „dass frühere Zahlen vermutlich zu niedrig angesetzt wurden, da die Migration in den vergangenen Jahrzehnten oft nur sehr ungenügend erfasst wurde.“ Vielmehr habe sich die Migration in den letzten Jahrzehnten umgekehrt. So wanderten viele Europäer zu Kolonialzeiten in die Kolonialgebiete aus – heute wandern die Menschen nach Europa ein. Auch die Folgen eines Krieges sind Flüchtlingsbewegungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg um ein Vielfaches höher waren als heute.
Armut ist nicht der Hauptgrund für Migration
Durch seine Feldforschungen hat er viele Gespräche mit Migranten geführt und sie ausgewertet. Auch in Studien internationaler Kolleginnen und Kollegen wurde festgestellt, dass nicht Armut der Hauptgrund für die internationale Migration darstellt, sondern das Angebot von Arbeit in den Industriestaaten. Mit zunehmender Nachfrage nach Arbeitskräften steigt auch die Migration. Es ist eine Sogwirkung. Wenn Arbeitskräfte nachgefragt werden, dann kommen sie. Und sie kommen gerade aus den Regionen, in denen sich das Bildungsniveau angehoben hat, weil die besser gebildeten Menschen ihre Fähigkeit für die Familien einsetzen wollen. Ein gewisser „Mittelstand“ ist auch notwendig, weil arme Menschen sich eine Fernmigration gar nicht leisten können. Daher sind internationale Migranten nicht aus den ärmsten Ländern der Welt, sondern sie kommen aus den sogenannten Schwellenländern. Und über 90 Prozent von ihnen kommen auf legalem Weg in ein Land, nur etwa zehn Prozent auf illegalen Wegen. Von daher kann nicht von einer Flüchtlingskrise oder gar von Rekordwerten von Migration gesprochen werden.
Unsinn über Grenzkontrollen
Ein weiterer Aspekt analysiert de Haas und deckt damit einen anderen Mythos auf. Die Verschärfung der Grenzkontrollen verstärkt die illegale Einreise und erhöht damit die illegale Migration. Die fehlende Arbeitskraft in einem Land lockt ausländische Arbeitnehmer an. Waren früher die Grenzen offen, war Migration wie eine Drehtür. Die Menschen kamen zu Zeiten, wo ihre Arbeitskraft nachgefragt wurde, und gingen bei sinkender Nachfrage wieder in ihr Land und zu ihren Familien zurück. Durch die Verschärfung der Einreise wird der Rotationsmechanismus blockiert. Die illegal Eingereisten werden in den Untergrund gedrängt, weil sie nicht sichtbar sein wollen, obwohl ihre Arbeitskraft benötigt oder gewollt ist. Der Soziologe zeigt an Beispielen auf, in denen staatliche Stellen keine oder nur wenige Razzien bei Betrieben oder Privatpersonen durchführen, wo illegale Beschäftigung weit verbreitet ist. Würden die Menschen abgeschoben, wäre es ein wirtschaftlicher Schaden für das ganze Land, weil notwendige Arbeiten nicht getan werden.
Flüchtlingswelle durch Klimawandel?
Im letzten von den 22 Mythen geht der Niederländer dem Klimawandel als Grund für eine mögliche Völkerwanderung auf der Spur. Er beklagt, dass die globale Erderwärmung dafür genutzt wird, die Thematik der Migration zu verschärfen. Doch aus seinen Analysen ergeben sich keine Hinweise, dass die Klimakrise zu verstärkten Migrationsbewegungen führen wird. De Haas legt nachvollziehbar dar, dass weder der Anstieg des Meeresspiegels, noch die Ausdehnung der Wüsten Anlass zur Flucht sein wird.
Neues Denken über die Migration
Dieses Buch vermittelt ein ganzheitliches Verständnis der Migration und umfasst einen Prozess des gesellschaftlichen, kulturellen und
wirtschaftlichen Wandels der Gegenwart. Deshalb empfehle ich das umfängliche Werk für alle, die bereit sind, ihre vielleicht festgefahrene Meinung zu hinterfragen und die Chance zu erkennen, vieles zu korrigieren. Wer dieses Buch ehrlich und selbstkritisch für sich durcharbeitet, wird genügend Punkte für die Reflexion des heftig diskutierten Themas finden. Es ist ein gelungenes, unbequemes Buch und gerade deshalb hat es Potenzial viele Veränderungen einzuläuten.