Vision: Natürlich. Menschlich. Machbar.

von Astrid-Beate Oberdorf

Astrid-scaled Natürlich. Menschlich. Machbar.

Frankfurt, 15. August 2045.

Beim Blick aus dem Hotelzimmer stockt mir der Atem. Vom 13. Stock haben wir einen imposanten Blick über die Stadt. Überall grünt und blüht es. Wo früher kalte Fassaden und langweile Dächer waren, wachsen jetzt Bäume, Sträucher und Stauden. Wir sind überrascht. Aber nicht nur davon, auch vom Speisesaal. Er befindet sich auf dem Dach. Ein herrlicher Garten lädt uns ein, im Freien zu sitzen. Beim Anblick des üppigen Büfetts fällt uns auf, dass fast alle Produkte aus der Region stammen. Überall stehen Holztäfelchen, sie informieren über Hersteller und Inhaltsstoffe. Honig und verschiedene Marmeladen kommen sogar aus Frankfurt. Alles wurde biologisch-dynamisch oder nach Richtlinien der Permakultur angebaut. Während wir im Schatten der Bäume unseren Dinkel-Kaffee genießen, summt und zwitschert es um uns herum. Vögel laben sich an Früchten und Insekten. Bienen, Wespen und andere Kleinstlebewesen erfreuen sich an den Blüten und der Pollenpracht. Von Lärm keine Spur. Das leise Surren der Straßenbahn wird von den Tiergeräuschen übertönt.

Bewegung statt Brennpunkt

Ein besonderes Ereignis hat uns nach Frankfurt gelockt. Heute wird der 2.000 Essbare Wildpflanzen Park (EWilPa) in Deutschland eröffnet. Frankfurt hat in den letzten 20 Jahren bereits fünf Ewilpas von ZukunftsMacher Dr. Markus Strauß realisiert. Alle am Rande von Wohnsiedlungen. Doch diesmal ist es ein besonderer Park. Er wurde auf den Hochhäusern im Stadtteil Freudental realisiert. Vor 20 Jahren hieß der Stadtteil noch anders. Damals galt er als sozialer Brennpunkt. Doch durch das Engagement von Bürgerinitiativen wurde er zu einem der bekanntesten Transition-Towns.

Aus dem Frust der Menschen, die 2022 immer mehr unter sozialer Spaltung und Existenzangst litten, ist eine Bewegung entstanden, die Vorbildliches aufgebaut hat. Nachdem Wohnungen in der Hochhaus-Siedlung leer standen, haben sich dort Menschen versammelt und über ihre Situation in dem Stadtteil gesprochen. Anfangs waren es nur wenige. Ihr Vertrauen auf eine Veränderung durch Politiker war verschwunden. Ernüchtert haben sie sich angeschaut wo sie stehen und haben entschieden, dass sie ihr Leben ab jetzt selbst in die Hand nehmen. Ihr Wunsch wuchs, gemeinsam mit allen Anwohnern, ihren Stadtteil zu einer Love-Community werden zu lassen. Allen sollte es gut gehen. Jeder sollte mit seinen Bedürfnissen geachtet werden. Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren aller Kulturen sollten beteiligt werden. Konflikte, die durch auseinanderdriftende Bedürfnisse und kulturelle Prägungen entstanden waren, sollten geklärt und bestmöglich überwunden werden. Was anfangs wie eine unlösbare Mammutaufgabe aussah, bekam schnell eine Dynamik und Entwicklung, die sich keiner der Beteiligten vorher vorstellen konnte.

Die Menschen öffneten sich für die Frage, was Mensch-Sein eigentlich ausmacht. Was ist ein artgerechtes Leben? Wie wollen wir leben?

Menschliche Macht

Durch Haus- und Straßenfeste lernten sich die Anwohner besser kennen. Feiern wurden zum Start gemeinsamer Projekte: Urban Gardening, Werkstätten, Einkaufsgemeinschaften, Lebens- und Wohngemeinschaften entstanden. Schulungsangebote, Erfahrungsräume und Erlebnisorte entstanden. Teils wurden sie durch die Menschen vor Ort initiiert, teils durch externe Referenten. Neue Fähigkeiten entstanden in den Bereichen: Gesundheit und Ernährung im Einklang mit der Natur, nachhaltiges Leben und Selbst-Verantwortung, gewaltfreie Kommunikation, Umgang mit verschiedenen Weltanschauungen, Betrachtungen und Realitäten. Viele Anwohner haben ihren Lebenssinn in der Transformation ihres Viertels gefunden.
Kultur-Projekte für Kinder und Jugendliche sorgten dafür, dass die Aufarbeitung psychischer Probleme, die in der Corona-Zeit stark zugenommen hatten, besser verarbeitet werden konnten. Die Heranwachsenden erlebten neue Selbstwirksamkeit und echtes Selbstbewusstsein.

Wunder geschehen

Immer häufiger berichteten die Medien über den Stadtteil. Dieses Gesehen-Werden führte zu immer mehr Engagement der Bürger. Und heute sind wir und viele andere Menschen nach Frankfurt gekommen, weil in diesem Stadtteil ein besonderer Essbarer Wildpflanzenpark eröffnet wird. Durch Dr. Markus Strauß, Conrad Amber, Stadtplaner, Statiker und Anwohner wurde in den letzten Jahren ein besonderes Konzept entwickelt. Dachflächen, Fassaden und Straßenzüge wurden zu einer einzigartigen essbaren Naturlandschaft vereint, mitten in der Hochhaussiedlung. Aronia, Armelanchier und Kornelkirsche wachsen auf Dächern, Stachel- und Johannisbeeren an Haltestellen, Wal – und Haselnüsse auf Spielplätzen, Maulbeeren und Vogelkirschen auf Schulhöfen, Goji-Beeren und viele andere Leckereien in den Straßen. Überall gibt es Nahrung – für Mensch und Tier. Schön, dass ich das mit 80 Jahren noch erleben darf!