Selbstorganisation: Eine spannende Reise für Unternehmen

Sich und das System täglich neu herausfordern

von Anna Nestorova, LIVEsciences*

Immer mehr Unternehmen und Mitarbeitende interessieren sich für die Vorteile der Selbstorganisation. Dieser Trend ist ebenso deutlich, wie es unzählige Gründe gibt, die dafürsprechen. Ein Entscheidender lautet: Eine sich selbst organisierende Kultur und fließende Strukturen sind die beste Umgebung, um Innovation und Wachstum in einer sich immer schneller verändernden Welt zu fördern.

Weitere Gründe, warum Selbstorganisationsprozesse und -strukturen gut für Unternehmen sind, liegen auf der Hand: Mitarbeitende werden befähigt, Entscheidungen innerhalb des Unternehmens zu treffen, überflüssige künstliche Hierarchien am Arbeitsplatz werden abgebaut, um den bürokratischen Aufwand zu verringern. Zudem haben alle Beteiligten, Führungskräfte wie Mitarbeitende, mehr und bessere Möglichkeiten, ihre individuellen Fähigkeiten zu entwickeln. Außerdem unterstützen agile Strukturen in der Zusammenarbeit mit Kunden, weil durch immer wieder neue Fragen gemeinsam wirklich passende Lösungen erarbeitet werden.

Ja, es stimmt: Selbstorganisierende Teams haben nicht nur Spaß! Das sollten Unternehmen und Mitarbeitende wissen. Um weiter zu wachsen und zu lernen, ist es deshalb sehr wichtig, die Herausforderungen zu verstehen, denen sich selbstorganisierte Teammitglieder stellen müssen. Und zwar jeder Mensch für sich persönlich und alle gemeinsam als Team. Veränderung von Gewohnheiten und Denkweisen stehen an der Tagesordnung. Auch wenn diese Reise nicht immer leicht ist, es lohnt sich dranzubleiben und zusammen herausfinden, was „New Work“ für das Team bedeutet und welche Aspekte wertvoll zu meistern sind.

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Dr. Anna Nestorova

Selbsterkenntnis und tägliche Herausforderung

Ich selbst bin seit 2017 bei LIVEsciences*; meine Kollegen würden mich wohl als neugierig, emotional und manchmal etwas misstrauisch bezeichnen. In meiner Arbeit bin ich immer auf der Suche nach der Resonanz zwischen den Menschen und dem Fluss in ihren Interaktionen. Jeder Transformationsprozess wurzelt für mich in der Selbsterkenntnis. Also beginnt für mich auch ein (Unternehmens-)Leben nach den Prinzipien von Teal bei einem selbst: Wer will ich sein und was will ich tun? Dann richten wir den Blick nach außen auf das Team und die Kunden: Was macht Sinn und wie stellen wir sicher, dass wir gemeinsam sinnvolle Arbeit leisten? Dieser Entdeckungsprozess ist der Wandel, den wir kontinuierlich durchlaufen. Während dieses Wandels lernen wir unweigerlich zu schätzen, herausgefordert zu werden. Denn das hilft dabei, uns auf das zu konzentrieren, was wir gemeinsam für wichtig halten, und ermutigt uns, unser individuelles Ego beiseite zu lassen und uns mehr mit dem WIR als Team zu identifizieren. Natürlich ist es ein langer Weg bis dahin, und auf der Ebene des Einzelnen und des Teams muss viel getan werden, um die notwendigen Schritte zu gehen.

Onboarding auf die etwas andere Art

Studentin Axelle ist neu bei LIVEsciences. Immer bereit, zu lernen und sich weiterzuentwickeln, begann ihr erster Schritt der Transformation in dem Moment, in dem sie sich bei LIVEsciences einarbeitete. Sie erzählt: „Es beginnt mit deinem Geisteszustand.“ Für Axelle war es zunächst verwirrend, in einem Unternehmen anzufangen, das die Dinge anders handhabt als traditionelle Arbeitsplätze, da sich sowohl die Gewohnheiten als auch die Denkweise änderten. Aber ihr Onboarding wurde durch einen „Buddy“ unterstützt, der ihr täglich zur Seite stand. Sie berichtet: „Mein Buddy und der Rest des Teams haben mir geholfen, alte Gewohnheiten abzulegen und zu lernen, was es bedeutet, Teal zu sein. Ich fühle mich immer sicherer, Fragen zu stellen, keine Erlaubnis einzuholen und ich selbst zu sein.“ Sie erinnert sich an den Rat eines Kollegen, der ihr zu Beginn ihrer Reise gegeben wurde: „Du wirst dich verloren und verwirrt fühlen. Lass es zu, das ist Teil des Spiels.“

Die Transformation als kontinuierliche Reise

Schnell erkannte Axelle, dass die Transformation nicht dann beendet ist, wenn man seine Denkweise und Gewohnheiten nach den ersten Monaten in einem agilen oder selbstorganisierten Unternehmen geändert hat: „Es hört eigentlich nie auf. Selbst wenn wir anfangen, uns mit dieser neuen Arbeitsweise wohlzufühlen, müssen wir agil bleiben. Wir müssen ständig darüber nachdenken, wie wir uns weiterentwickeln können, wie wir effizienter werden können.“ Sie sagt, dass sie sich auf ihre Kollegen verlassen kann, die sie in ihrer Entwicklung unterstützen, und sie hofft, dass auch ihr Team auf sie zählen kann. „Wir haben Vertrauen ineinander, und das ermöglicht es uns, zu wachsen.“

Ich stelle immer wieder fest, dass sich selbst bei Personen und Unternehmen, die sehr viel Erfahrung in und mit Selbstorganisation haben, Überbleibsel traditioneller Denkweisen einschleichen können. Wir Menschen mögen eben endliche Konzepte und Grenzen: Wann ist dieser Tag zu Ende? Wann beenden wir dieses Projekt? Ich glaube, diese Endpunkte geben uns ein Gefühl der Kontrolle und Vollendung. Dennoch entwickeln sich Projekte zu regelmäßigen Abläufen. Das Leben existiert schon seit Jahrtausenden und wird hoffentlich noch lange nach unserem Tod weitergehen. Ich glaube, die Selbstorganisation ermöglicht es uns, die Welt um uns herum auf eine ganzheitlichere Weise zu betrachten. Im Gegenzug sollten wir ein wenig von unserem endlichen Denken abgeben. Wir sollten ein wenig von der Kontrolle loslassen und einen auf den Menschen ausgerichteten Arbeitsansatz wählen.

Die Herausforderung der Ungeduld

Axelle erinnert sich an ihre Anfänge bei LIVEsciences: „Wenn man in dieses Umfeld einsteigt, geht es um Leidenschaft und Begeisterung. Wir wollen so schnell wie möglich an allem teilhaben. Es ist wirklich anregend, sofort handeln zu können und dabei das Vertrauen des Teams zu haben“. Sie erzählt, dass diese Begeisterung zu einem Ungleichgewicht und einem Missverständnis des Unterschieds zwischen Autonomie und Anpassung führen kann. „Es mag beängstigend sein, weil wir unseren Wert und unsere Erfahrung sofort zeigen möchten. Der Schlüssel für mich war, mich selbst nicht zu sehr unter Druck zu setzen und meinem Team zu vertrauen. Ebenso wichtig ist es, niemals zu zögern, um Unterstützung oder Rat zu bitten oder Bedenken zu äußern!“

Nach fast fünf Jahren Selbstorganisation spüre auch ich noch diese Leidenschaft, Begeisterung und Nervosität, die Axelle beschreibt. Ja, ich habe immer noch Schmetterlinge im Bauch vor Aufregung, und manchmal bin ich schier überwältigt von der Komplexität und Ungewissheit meines Umfelds. Die Herausforderung besteht darin, als Einzelner und als Team ständig daran zu arbeiten, sich auszurichten und Netzwerke des Vertrauens zu schaffen. Genau darauf müssen wir uns als selbstorganisiertes Team in einem Umfeld mit zu vielen Variablen und der Unsicherheit, die sich aus neuen Arbeitsweisen für Einzelpersonen ergibt, verlassen können. Dieses Vertrauen entsteht durch den Wert, den wir durch unsere Arbeit bei unseren Kunden leisten, und durch bewährte Fähigkeiten. Aber es entsteht auch durch Haltungen und Verhaltensweisen wie Mitgefühl, dienende Führung und Transparenz.

Werkzeuge zur Bewältigung von Unsicherheit

In einem selbstorganisierten System gibt es keine formell ernannten Führungskräfte. Stattdessen ist jeder eingeladen, Verantwortung für das und im Unternehmen zu übernehmen. Auf der Grundlage von Vertrauen und Kompetenz kann dies zu einer Vielzahl von Optionen führen, es führt zugleich aber zu ganz neuen Herausforderungen. Wichtige Fragestellungen in diesem Zusammenhang lauten: Arbeiten wir als zweckorientiertes Unternehmen beispielsweise (mehr) an Projekten, die wir ‚Purpose‘ nennen, oder konzentrieren wir uns auf Aufgaben, die mehr Umsatz erzielen? Welche Prioritäten setzen wir zu einem bestimmten Zeitpunkt in der selbstorganisierten Umgebung: Arbeitsverpflichtungen oder unsere persönlichen Bedürfnisse wie Entwicklung und Lernen, Wohlbefinden und mehr? Arbeiten wir an der Verbesserung unseres Systems und unserer Zusammenarbeit oder konzentrieren wir uns auf unsere externen Kunden? Wir nennen diese scheinbar widersprüchlichen Bedürfnisse und die damit entstehende Unsicherheit „systemic double binds“ – systemische Doppelbindungen (vgl. Fred Kofman „Is your job driving you nuts“).

Angesichts der systemischen Doppelbindungen betonen die Mitglieder unseres LIVEsciences-Teams, wie wichtig es ist, zusammenzuarbeiten. Die Mitarbeitenden müssen sich gegenseitig unterstützen, um ihre Prioritäten abzustimmen und die Verantwortung für die Probleme zu übernehmen. Dies bedeutet, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem auf der einen Seite Bildung, Wissensaustausch und Coaching und auf der anderen Seite Verantwortungsbewusstsein und Führungsqualitäten gefördert und manifestiert werden. Was den Teammitgliedern auch helfen kann, mit systemischen Doppelbindungen umzugehen, ist, implizite Dinge explizit zu machen: Rollen definieren, regelmäßiges Feedback geben und lernen, die Bedürfnisse von Mitarbeitenden und Kunden zu erkennen, um die richtigen Prioritäten zu setzen.

Auf die abschließende Frage „Und wie können selbstorganisierte Mitarbeitende ihre Organisation dabei am einfachsten unterstützen?“ antwortet Axelle: „Vertrauen in das System!“, und ich ergänze gerne: „Netzwerke des Vertrauens zwischen den Menschen.“