Buchtipp: Vom Mythos des Normalen – von Gabor Maté

von ZukunftsMacher Helmut Scheel

Vom-Mythos_-des_-Normalen Vom Mythos des Normalen

Der Titel des Buches machte mich neugierig. Die Kombination aus Mythos und Normal klang für mich nach Widerspruch. So reagierte ich auf die Taschenbuchausgabe, ein über 600 Seiten umfassendes Buch von Gabor Maté, das er mit seinem Sohn Daniel schrieb. Der Untertitel verriet das genauere Thema, um das es geht: „Wie unsere Gesellschaft uns krank macht und traumatisiert – neue Wege zur Heilung.“

Instinktiv werden dem Untertitel vermutlich viele Menschen zustimmen, wenn auch nicht bis in die Tiefen eines Traumas. Dabei kommen die Worte Trauma und traumatisch heute durchaus häufig in Gesprächen vor. Bereits der Einstieg hätte nicht besser gewählt werden können als mit einem Zitat von Aelius Galenus: „Soll die Medizin ihre große Aufgabe wirklich erfüllen, so muss sie in das große politische und soziale Leben eingreifen.“

Gabor Maté lebt heute in Kanada und ist ein renommierter Arzt, Autor und Experte für Sucht, Stress und Trauma kann es wissen, denn er greift auf einen großen Erfahrungsschatz zurück. Schon seine Herkunft aus Ungarn, aus einer jüdischen Familie, impliziert ein traumatisches Schicksal. Seine Kontakte ermöglichten es ihm, mit vielen – auch berühmten – Persönlichkeiten ins Gespräch zu kommen. Ein Teil dieser Erfahrungen spielt im Buch eine anschauliche Rolle. Zusammen mit seiner leicht verständlichen Sprache, unterstützt durch eine gute Übersetzung, lassen sich die Themen gut auf die eigenen Lebensverhältnisse übertragen.

Krankheit als Prozess

In erster Linie betrachtet Maté den Menschen in seiner Gesamtheit. Er teilt den Körper nicht in seine Einzelteile auf, sondern hat eine Gesamtschau. Deshalb bezeichnet er Krankheit nicht als eine Sache, sondern als Prozess. Jede Krankheit hat eine Vorgeschichte und Entwicklungsphase. Sie bringt das Immunsystem zum Meutern im Körper. Diese „Meuterei“ wird nicht nur durch Viren und Bakterien ausgelöst, sondern hängt auch mit unserer Entwicklung und unseren Bedürfnissen zusammen. Bereits in der pränatalen, also vorgeburtlichen Phase, erleben wir viel. Wir bekommen sehr genau mit, wie es der Mutter geht, weil wir mit ihr im ständigen Austausch sind. Diese Zeit prägt bereits unseren Charakter. Wenn wir dann auf der Welt sind, werden wir weiter vom Milieu und der Gesellschaft, in der wir aufwachsen, geformt. Passen wir aber von unserer Veranlagung her nicht hinein, entstehen bereits die Voraussetzungen für Krankheiten, weil wir – zumindest im Unbewussten – mit Ablehnung reagieren.

Raub der menschlichen Seele

Dieses „toxische Element in unserer Kultur“, so der Titel des vierten Teils, leitet uns an, gegen unser eigenes Sein und Wollen zu handeln. Schnell merken wir: Wir sind auf uns allein gestellt. Maté bezeichnet dies als „Raub der menschlichen Seele“, der uns zu Einzelgängern werden lässt, wenn wir unserem Inneren folgen. Im Gegenzug gelangen Soziopathen wie Trump in höchste politische Positionen. Mehr oder weniger sprechen der Autor und sein Sohn damit fast alle Menschen an, die sich eine politische Karriere aussuchen, aber nicht nur diese. Insgesamt sind dadurch Frauen in unserem patriarchalen System doppelt benachteiligt, was sich wiederum auf die Kinder auswirkt, die sie gebären. Ein Teufelskreis.

Als Arzt stellt Maté in diesem Werk nicht nur eine Diagnose, sondern schlägt auch eine Therapie vor. Diese beginnt damit, die Worte Heilung und Genesung zu trennen. Während Genesung den medizinischen Teil der Gesundung darstellt, ist Heilung für ihn die Ganzwerdung. Hier schreibt er von den „vier Heilungsprinzipien und fünf Formen des Mitgefühls“. Auf diesem Weg kann eine oder auch mehrere Krankheiten zu „Lehrmeisterinnen“ werden, denn ohne sie hätten wir unseren Weg nicht geändert. Es geht darum, den gesellschaftlichen Mythos aufzuheben, der uns vorgibt, was erfolgreich ist. Die Autoren schildern, zum Teil mit eigenen Beispielen, dass Schmerzen not-wendig sind, um auf den richtigen Weg zu gelangen. Auch die Vorstellung, dass schwere Krankheiten immer ein Unglück sein müssen, widerlegt Maté. Er berichtet von Menschen, die das Gegenteil bezeugen, genauso wie von solchen, die wir als erfolgreich kennen, aber unglücklich sind.

Ein Buch mit Tiefgang

„Vom Mythos des Normalen“ ist ein Buch mit Tiefgang. Es kann zu einem besseren Verständnis von uns selbst und den Menschen um uns herum beitragen; bis hinein in die Welt der Prominenten. Man muss keine Angst vor dem Umfang haben, denn die kleinen Geschichten lassen uns in eine andere Welt eintauchen. Bereits am Anfang betonen die Autoren, dass keine der Geschichten fiktiv ist. So wird unser Empfinden angeregt, über andere in die Tiefen unseres Selbst zu gelangen.

Den eigenen Mythos ergründen

Wir nennen unsere Welt heute komplex und sie ist es. Wenn wir jedoch bei uns beginnen, mit unserer eigenen Geschichte, mit unserem eigenen Werden, und uns dieses Werden zugestehen, dann lernen wir, eigene Wege zu gehen. Wir ziehen uns aus einer Welt der Kopien anderer zurück, um selbst zum Original zu werden. Dazu kann das Buch einen wertvollen Dienst leisten. Ich werde daher versuchen, das Normale weiter zu verlassen und meinen eigenen Mythos zu ergründen.

Foto: Kösel Verlag 

Buchtipp

Vom-Mythos-des-Normalen Vom Mythos des Normalen

Vom Mythos des Normalen

von Gabor Maté mit Daniel Maté

Kösel Verlag

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