Buchtipp: Geflochtenes Süßgras – Robin Wall Kimmerer
von ZukunftsMacher Helmut Scheel
Robin Wall Kimmerers „Geflochtenes Süßgras“ ist ein Buch, das unter die Haut geht – ein Werk, das uns sanft und doch eindringlich die Augen öffnet. Die promovierte Biologin und indigene Frau verwebt Wissenschaft, spirituelle Weisheit und alltägliche Erfahrungen zu einem Text, der gleichermaßen lehrt und berührt. Sie nimmt uns mit auf eine Reise in eine Welt, in der die Natur nicht bloßes Objekt ist, sondern Vertraute, Lehrerin und Geliebte. Es ist ein Buch, das keine klare Trennung zwischen Menschen und Natur zulässt – und das tut auf eine Weise, die eine tiefe Sehnsucht nach dieser verloren gegangenen Verbundenheit in uns weckt.
Teil eines lebendigen Ganzen sein
Die Sprache von Robin Wall Kimmerers ist poetisch und dennoch wissenschaftlich fundiert, sie spricht von der Natur wie von einem geliebten Menschen, und ihre eigene tiefe Verwurzelung in der Weisheit ihrer indigenen Vorfahren fließt in jedes Wort ein. Für mich ist dieses Buch ein bittersüßes Erlebnis, das nicht nur die Augen, sondern auch das Herz öffnet. Seite um Seite, von gut 460 spürte ich Kimmerers Trauer über das, was wir in unserem modernen Leben längst verloren haben – das Gefühl, ein integraler Teil eines lebendigen Ganzen zu sein. Sie zeigt uns, wie die indigenen Völker Nordamerikas die Natur als Partner sehen, der auf die gleiche Weise gibt und nimmt. Diese Verbundenheit mit der Natur wird hier zur Grundlage von Geschichten, Mythen und Ritualen, die uns lehren, was es heißt, wirklich dankbar zu sein.
Besonders eindrücklich ist die Symbolik der „Drei Schwestern“ – Mais, Bohnen und Kürbis –, die zusammenwachsen und einander nähren. Kimmerer kontrastiert dieses natürliche Miteinander mit der westlichen Wissenschaft, die Pflanzen und Tiere oft als isolierte Organismen ohne Beziehung zum Menschen sieht. Die moderne Wissenschaft, die sie selbst lehrt, fällt schwer in ihrer rationalen Kühle und wehrt sich gegen eine Beziehung, die nicht messbar oder statistisch erfassbar ist. Sie beschreibt anschaulich, wie ihre Studierenden auf die indigenen Weisheiten reagieren, mit Unverständnis und oft mit Skepsis, und wie schwierig es ist, zwei so unterschiedliche Welten zu vereinen.
Aufruf zur Heilung
Doch es bleibt nicht bei Trauer. Dieses Buch ist ein Aufruf zur Heilung. Durch ihre persönlichen Erfahrungen lässt Kimmerer uns spüren, wie wichtig es ist, den zerstörerischen Umgang mit der Natur zu hinterfragen und zu verändern. Die Monokulturen, die Böden auslaugen, die Flüsse, die verschmutzt und die Wälder, die gerodet werden – all das ist für Kimmerer nicht nur eine Umweltkatastrophe, sondern ein Bruch im tiefen Gewebe des Lebens. Es schmerzt, und doch zeigt *Geflochtenes Süßgras* einen Weg auf: Es ist eine Einladung, zu einer tieferen, heilenden Beziehung zur Natur zurückzufinden.
Heilung der Natur
Für mich ist „Geflochtenes Süßgras“ ein Geschenk. Es ist ein Schmerzmittel und Heilmittel zugleich, das auf eindringliche Weise mahnt und Hoffnung schenkt. Kimmerer zeigt uns, dass die Heilung der Natur und die Heilung des Menschen ein und dasselbe sind – dass wir nur durch ein neues Verständnis, das auf Respekt und Liebe beruht, zurück zu dieser Harmonie finden können. Wer sich auf dieses Buch einlässt, wird es nicht unverändert verlassen. Es ist eine Lektüre, die bleibt, wie eine sanfte Erinnerung, die uns ins Herz geschrieben wird.
Über Robin Wall Kimmerer
Robin Wall Kimmerer ist Wissenschaftlerin, Professorin und Mitglied der Citizen Potawatomi Nation. Ihr Buch »Geflochtenes Süßgras« wurde zu einem gefeierten Publikumserfolg und zum Spiegel-Bestseller und steht seit seinem Erscheinen auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Kimmerer lebt in Syracuse, New York, wo sie als Professorin für Umweltbiologie und als Gründerin und Direktorin des Center for Native Peoples and the Environment arbeitet.