Buchtipp: „Nachruf auf mich selbst: Die Kultur des Aufhörens“

von ZukunftsMacher Helmut Scheel

Der Titel des aktuellen Buches des Bestseller-Autors Harald Welzer klingt schräg. Gewohnt sind wir, dass ein Nachruf, wie im Wort ausgedrückt, im Nachhinein geschrieben wird. Folglich kann man ihn auch nicht selbst verfassen. Was hat es also auf sich mit Welzers Buch?

Welzer-_-Nachruf-auf-mich-selbst Harald Welzer: Ein Kompass für das Aufhören

Nach dem Guten streben? 

Im Prinzip geht es um die Rückschau auf das eigene Leben, eine Art Gewissensspiegel des eigenen Lebens. Es ist ein Versuch abzuwägen, ob das Totengericht, wie bei den alten Ägyptern, ein ewiges Leben zulässt. Bei den alten Ägyptern wurde das eigene Herz gegen eine Feder aufgewogen und nur wenn das Herz nicht schwerer als die Feder war, bekam man das ewige Leben geschenkt. Harald Welzer hingegen fokussiert sich darauf, was man selbst in seinem eigenen Nachruf lesen möchte. Damit geschieht das Abwägen des eigenen Lebens mit den Ansprüchen an sich selbst. Aber warum, wenn wir doch in einer säkularen Welt leben, in der nicht mehr an Götter und ewiges Leben geglaubt wird? Hier geht Welzer auf Ernst Bloch ein, der betonte,  dass wir zwar Gott für tot erklärt haben, aber nicht das Böse. In einem Interview der Süddeutschen Zeitung sagt der Autor sogar: „Und Bloch, ausgerechnet er, der Hoffnungsphilosoph, kommt auf diesen Gedanken, nämlich dass der Teufel nicht säkularisiert worden ist. Das ist doch ein spektakulärer Gedanke.“

Ist in uns Menschen also doch etwas vorhanden, dass nach dem Guten strebt? Wollen wir doch am Ende, dass wir in „guter Erinnerung“ bleiben?

Das Ende trifft auf Unendlichkeit

Welzer macht er einen Streifzug durch die Entwicklung unserer Zeit, die auf eine Ewigkeit des „Weiter-so“ ausgelegt ist. Unser kapitalistisches System hat kein Ende eingeplant. Alles muss immer weiter gehen. Es muss immer mehr Wachstum geben, damit das System nicht zusammenbricht, wie es bereits Harmut Rosa in seinem Buch „Beschleunigung“ beschrieben hat. Doch dieses Weiter-so verbraucht Ressourcen – und die sind endlich. Damit trifft ein System der Unendlichkeit auf einen endlichen Planeten. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Es trifft die Generation des unendlichen „Weiter-so“ auf die Generation „Ende-Gelände“. Das Ende trifft auf Unendlichkeit.

Der Autor arbeitet heraus, dass alles auch vom Ende her betrachtet werden muss. Die Pandemie hat gezeigt, dass es Grenzen gibt. Die Finanzkrise hat aufgezeigt, dass das Finanzsystem nicht abgekoppelt von der restlichen Welt funktioniert. Alles kann ein Ende haben und hat auch eines. Doch dies wollen wir, die „Boomer-Generation“ nicht wahrhaben. Das Gute wurde aus der Welt getilgt und nur das Böse hat überlebt, könnte man ein Zwischen-Resümee ziehen. Das „Nicht-ans-Ende-denken“ könnte man, so mein Verständnis, deshalb als das Böse im übertragenen Sinne bezeichnen.

Welzer schildert in seinem Buch auch Geschichten von Menschen, die in ihrem Leben immer das Ende in ihre Überlegungen einbezogen haben. Wie Reinhold Messner zum Beispiel. Er hat viele Expeditionen vor dem Erreichen des Zieles abbrechen müssen, weil es sonst lebensgefährlich für ihn geworden wäre. Und nachdem er das Maximum dessen erreicht hat,  hat er die Tätigkeit beendet. Danach hat er sich ein neues Betätigungsfeld gesucht und dort ebenfalls das Beste herausgeholt. Immer wenn er sein Ziel erreicht hatte, hat er es beendet. Das Fazit von Welzer: Wenn man weitermachen würde, würde die eigene Leistung   banalisiert.

Ein Kompass des Aufhörens

Somit macht es wieder Sinn, wenn man in dem „Nachruf auf mich selbst“ festlegt, was das Maximum des Erreichbaren zu sein scheint. Dann ist dieser Nachruf ein Kompass für das Aufhören, für ein Ende finden. Und mit dem Ende finden wird das Ende des eigenen Seins zu einer Realität des Lebens, des bewussten Lebens. Dieses bewusste Leben hat noch eine andere Dimension als die der „Reinen Vernunft“ seit Kant. Diese Dimension durchzieht einen großen Teil des Buches, obwohl es nur in wenigen Passagen angesprochen wird. Man könnte es auch als ein spirituell-soziologisches Buch bezeichnen.

Buchtipp

Nachruf auf mich selbst | Die Kultur des Aufhörens 

von Harald Welzer 

Harald-Welzer-_-Nachruf-auf-mich-selbst-300x216 Harald Welzer: Ein Kompass für das Aufhören

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Prof. Harald Welzer

Harald Welzer ist Soziologe und Sozialpsychologe. Er leitete das Center for Interdisciplinary Memory Research (CMR) in Essen und ist Mitbegründer der gemeinnützigen Stiftung „Futurzwei“.