Die neue Haltung hat sich entfaltet
Äußerer Wandel brauchte inneren Wandel – und umgekehrt
von Dr. Holger Kreft (Büro für zukunftsfähige Regionalentwicklung, Wuppertal)
Holger Kreft[/caption]Wir sind im Jahr 2035. Wir alle überfordern uns nicht mehr selbst, auch nicht unsere Mitmenschen und unsere Mitwelt. Inzwischen haben wir uns von dem enormen Druck befreit, der oft auch als ‚Knappheit’ bezeichnet wird.
Wie kam es dazu?
Covid-19 hat uns wachgerüttelt: Die Pandemie zwang uns aus vielen Routinen auszubrechen. Wir haben das reflektiert und wollen nun Neues in die Welt bringen und es verbreiten. Durch das Virus rückten die Bedürfnisse aller Menschen, das Verhältnis zwischen Gemeinschaft, Staat, Markt und den Einzelnen sowie die Potenziale der Natur, aber auch ihre begrenzte Belastbarkeit stärker ins Zentrum der AufmerksamÂkeit. Unser WohlfahrtsÂmodell konnten wir transformieren. Wir verbrauchen jetzt erheblich weniger Naturgüter und strapazieren die globalen Kapazitätsgrenzen nicht mehr. Zudem haben wir die Ungleichheit bei unserer Versorgung deutlich abgebaut – und dabei ist die Zufriedenheit aller deutlich gewachsen!
Grundgeborgenheit für alle
Fülle konnte das allgegenwärtige Mangelgefühl verdrängen. Sowohl die tatsächliche Versorgung hat sich für alle Menschen verbessert als auch die innere Haltung der Menschen dazu, wie sie ihren eigenen Wohlstand wahrnehmen. Ohne etwas dafür leisten zu müssen, bekommen wir nun, was wir zum Leben brauchen – von uns allen und vom Planeten Erde. Möglich ist das auch dank intelligenter Technik sowie innovativer Kommunikations- und Organisationsmethoden. Entscheidend war, dass in der Wirtschaft immer mehr der künstlich verknappenden Mechanismen beseitigt wurden. Wir wissen nun, was wir wirklich wirklich brauchen und was wir aus uns heraus sein, haben und machen wollen. Auf friedliche und gewaltlose Weise sorgen wir dafür, dass wir unsere Ideen zum Leben erwecken. Die Folge: In jeder/m von uns hat sich eine Grundgeborgenheit entwickelt. Eine starke Verbundenheit mit sich und der Welt und zugleich große innere und äußere Freiheit gehen damit einher. Viele unserer Ängste haben sich dadurch aufgelöst.
Anderes Geld, anderes Wirtschaften
Wir machen auch nicht mehr alles zur Ware, „was sich nicht wehren kann“. Wir versuchen nicht mehr, unseren Lebenserfolg in Geld oder Sachwerten zu quantifizieren oder die gesellschaftliche Wohlfahrt ausschließlich in Form des Bruttosozialprodukts abzubilden. Dem Geld haben wir inzwischen einen ganz anderen Charakter gegeben: Es ist nun endlich ein rein symbolhaftes Hilfsmittel, das wir uns als Wertmaßstab nicht immer wieder neu erarbeiten müssen. (Zum Messen von Längen kaufen wir ZentiÂmeterÂbänder ja auch nur einmal, um sie dann immer wiederzuverÂwenden.) Durch zweckmäßige Änderungen am Eigentumsrecht können wir jetzt viele Naturgüter wie Wälder und Meere, aber auch die von uns geschaffenen Infrastrukturen oder Wissensbestände als sogenannte Commons schonend bewirtschaften.
Unser Zusammenleben neu organisiert
Inzwischen können wir es uns „leisten“, und wir sind auch dazu befähigt, in unseren Quartieren, Städten und Ländern – bis hin zur globalen Ebene – gemeinschaftlich unsere Handlungsziele zu formulieren. Um diese Ziele umzusetzen, bringen wir jeweils die uns möglichen Beiträge ein, jede*r von uns den eigenen Möglichkeiten entsprechend. Niemand fragt die anderen kritisch bohrend: Warum gibst du nicht mehr? Viele Stadtgärten auf den Gemeinschaftsflächen bewirtschaften wir gemeinsam. Wir haben Quartiersfonds zur Deckung unserer Grundbedürfnisse etabliert. Virtuelle Marktplätze konnten wir einrichten, in denen wir gemeinsam quartiersrelevante Entscheidungen treffen.
Notwendige Veränderungen in uns
Statt alles zu (ver)handeln, um Aufmerksamkeit, Sachwerte, Geld und Macht anzuhäufen, haben wir Verhaltensweisen entwickelt, die zu einem umfassenderen Gelingen unseres Gemeinwesens beitragen. Geeignete Rückkopplungsmechanismen verhindern extreme Ungleichgewichte oder gar Monopolisierung. All das ist auch deswegen möglich, weil viel mehr Menschen sich selbst besser annehmen können. Innere Leere und äußere hektische Aktivitäten sind daher Relikte der Vergangenheit. Kein Konsum mehr zur Ersatzbefriedigung! Stattdessen erschaffen wir leichter den Sinn für unser eigenes Tun, und Lebendigkeit blüht wieder in uns auf. Viele Abläufe in der Gesellschaft haben wir umorganisiert, wodurch wir unsere eigene Wirksamkeit deutlicher wahrnehmen. Wir alle sind auch besser darin geworden, Ungewissheiten und Mehrdeutigkeiten auszuhalten. Die ureigenen Qualitäten der Dinge nehmen wir wieder stärker mit allen unseren Sinnen wahr. Wir haben eine größere Genussfähigkeit entwickelt, die es uns erleichtert, auch durch kleine Dinge mehr Zufriedenheit zu finden. So beobachten wir das Werden und Vergehen der Natur in unseren Gärten und Parks wieder aufmerksamer in allen ihren schönen Einzelheiten – und wir erfreuen uns daran!
Aufrichtiges Interesse am Mitmenschen
Das Mitgefühl untereinander ist stärker geworden, und mehr Solidarität im konkreten Handeln ist daraus erwachsen. Rechtfertigende Denkkonstrukte und Schutzschilder sind überflüssig geworden, denn wir entwickeln ein aufrichtiges Interesse an dem und der Anderen. Die Veränderungen haben auch bewirkt, dass wir Fremde und Fremdes nicht mehr dämonisieren.
Lernorte einrichten
Wodurch konnten wir das vorantreiben? Ein wichtiger Weg, wenn auch nur einer von vielen: Neue, ganzheitlich ausgerichtete, bürgerschaftlich geführte Lernorte in den Quartieren halfen dabei, neue Denk- und Handlungsformen zu entwickeln und zu verbreiten. Dort kommen wir auch weiterhin zusammen, um uns unsere eigenen BildungsproÂgramme zusammenzustellen. Wir können alte Denkmuster auflösen, neue Wege gehen und einüben, und wir lernen, wie wir den Wandel gemeinsam gestalten.
Lifehacks austüfteln und anwenden
Wir untersuchen, wo sich in unserer Umgebung noch das alte Denken zeigt. Wir überlegen uns, wie wir Weltbilder und Haltungen, Alltagsroutinen, Konsummuster, Infrastrukturen und Institutionen, GeschäftsÂmodelle, Organisations- und Marktstrukturen ebenso wie Technologien und ökonomische Modelle auf legale und menschengemäße Weise hacken können, um sie auf lebensfreundlichere Wertvorstellungen neu auszurichten.
Foto: Henning Westerkamp auf PixabayÂ