Im Käfig der Diktator schrie die Seele nach Freiheit 

ZukunftsMacherin Jeannette Hagen hat Politikwissenschaften studiert, ist ausgebildete Fachzeitschriftenredakteurin und arbeitet als freie Journalistin und Autorin. In ihrem vorletzten Buch „Die leblose Gesellschaft. Warum wir nicht mehr fühlen können“ hat Jeannette Hagen wachgerüttelt, weil sie die Angst vor dem Fremden aufzeigt. Sie tritt für den respektvollen Umgang miteinander ein. Die Autorin ist in der DDR aufgewachsen. In der Zeit hat sie viele Repressalien erlebt, mit der eine Diktatur aufwartet. Das ist der Grund, warum sie sich heute aktiv für Menschenrechte und für Freiheit einsetzt.

Elita Wiegand führte ein Interview mit Jeannette Hagen.   

Freiheit und Demokratie hat für Dich eine besondere Bedeutung, weil Du in der DDR aufgewachsen bist. Wie hast Du das System erlebt?

Jeannette Hagen: Als ich fünf Jahre alt war, sind wir von Dresden nach Berlin umgezogen und lebten in einer Wohnung direkt an der Mauer. Zunächst hat mich die Mauer nicht gestört. Im Gegenteil: Weil unsere Straße eine Sackgasse war, fuhren kaum Autos, also konnten wir Kinder ungestört Rollschuhe laufen. Aber die Wachtürme und Grenzposten waren allgegenwärtig. Wir durften uns der Mauer nicht nähern. Damals fragte ich mich häufig: „Warum können Westberliner zu uns schauen, aber wir nicht zu denen und warum dürfen wir den Westberlinern nicht winken?“, denn wenn man es versuchte, kam sofort ein Grenzer und sprach einen Verweis aus. Wir lernten früh, dass das Regime das letzte Wort hatte.

J.Hagen_-1-1 Jeannette Hagen: Im Käfig der Diktatur schrie die Seele nach Freiheit

Foto: Tanja Deuß, knusperfarben.de

Wann wurde Dir konkret bewusst, dass Deine Freiheit eingeschränkt ist? 

Jeannette Hagen: Ich habe es ganz massiv gemerkt, als die besten Freunde meiner Eltern flüchten wollten und sich dafür in einem Auto versteckten. Sie wurden jedoch an der Grenze verhaftet, jemand hatte sie verraten.

Das war für meine Familie dramatisch, weil wir den Abend zuvor noch bei ihnen waren. Damit ist der Verdacht der Mittäterschaft auf meine Eltern gefallen und die Staatssicherheit hat sie verhört. Meine Eltern haben wenig darüber erzählt, aber ich habe gemerkt, dass etwas Schlimmes passiert war und manch einer sogar ins Gefängnis kam, nur weil er Freunde hatte, die dieses System verlassen wollten. Dass wir von da an überwacht wurden, habe ich erst aus den Akten erfahren.

Ich habe die freiheitlichen Einschränkungen auf eine andere Art erlebt. Ich war schon immer ein begeisterter Vogelfreund. In der DDR war es schwierig, gute Bücher zu bekommen, aber wir kannten jemanden im Buchladen – unter der Hand kamen wir an tolle Bildbände, so auch ein Bildband über die australische Vogelwelt. Als ich die Fotos sah, spürte ich eine große Sehnsucht, wollte die Vögel unbedingt in Australien sehen und konnte einfach nicht verstehen, dass ich nicht dorthin durfte. Ich fühlte mich wie ein Vogel, der die Flügel ausbreiten will, aber in einem engen Käfig eingesperrt ist. In der Natur gibt es keine Grenzen. Stacheldraht, Mauern oder Grenzen schaffen Menschen. Damals habe ich erfahren, wie es ist, wenn man sich nicht dahin bewegen kann, wo man gerne hin möchte. Und ich habe erlebt, wie mich das politische System der DDR eingeengt und meine Träume und Wünsche zerstört hat. Das ist der Grund, warum ich mich heute dafür einsetze, dass jeder Mensch in Freiheit sagen und tun kann, was er will, vorausgesetzt, dass dadurch kein anderer Schaden erleidet.

Deine Mutter ist dann über einen Ausreiseantrag in die Freiheit gelangt, Du aber musstest in der DDR bleiben. Wie hast Du das damals verkraftet? 

Jeannette Hagen: Meine Mutter hat 1986 einen Ausreiseantrag gestellt, dem ich mich angeschlossen habe. Sie wollte einen Westdeutschen heiraten – ein Fall, in dem das Ministerium des Inneren innerhalb einer Frist von drei Monaten zustimmen oder ablehnen musste. Ich war damals gerade 19 Jahre alt, also volljährig, und erhielt auf mein Gesuch eine Ablehnung, durfte ihr also auf unbestimmte Zeit nicht folgen. Der Käfig wurde damals für mich noch enger. Vor dem Haus kontrollierten mich Stasi-Beamte, ich wurde beobachtet und es wurde protokolliert, wer mich besuchte oder mit welchen Freunden ich unterwegs war.

Am schlimmsten aber war die Trennung von meiner Mutter. Sie war meine Bezugsperson, ich habe sie vermisst und es hat weh getan, dass ich sie nicht sehen konnte. Zu dem Verlassenheitsgefühl kam die Willkür, die mich wütend machte. So musste ich mich regelmäßig zu sogenannten Rückgewinnungsgesprächen einfinden und man hat mit allen möglichen psychologischen Tricks versucht, mich umzustimmen. Doch ich wollte weg und meine Ausreise beschleunigen. In den Protokollen, die mir heute vorliegen, kann ich sehen, wie sehr ich mich bemüht habe, den Spagat zwischen Konsequenz und Dialogbereitschaft zu meistern. Mir war klar, dass ich immer nur einen Schritt davon entfernt war, schwereren Repressalien ausgesetzt zu werden. Trotzdem wollte ich mein Anliegen durchsetzen. Heute schaue ich zurück und wenn ich dann höre, wir wären in einer Diktatur oder wenn ich die DDR-Romantik sehe, die hier und da wieder erblüht, dann kann ich nur den Kopf schütteln. Die DDR war ein menschenfeindlicher Unrechtsstaat. Das Regime hat diktatorisch regiert und Menschen ihrer Freiheit beraubt. So etwas darf nie wieder geschehen.

Du warst mutig und hast einen Brief an Erich Honecker geschrieben. Was hat Dich angetrieben? 

Jeannette Hagen: Ich war verzweifelt und wusste nicht mehr weiter, weil mir natürlich keiner sagen konnte und wollte, warum ich nicht ausreisen darf. Deshalb habe ich einen freundlichen Brief an Erich Honecker geschrieben, um auf meine emotionale Situation hinzuweisen. Erst viel später habe ich erfahren, dass ein solcher Brief durchaus auch ein Grund für eine Verhaftung hätte gewesen sein können. Offensichtlich hatte ich großes Glück.

Brief-Honecker Jeannette Hagen: Im Käfig der Diktatur schrie die Seele nach Freiheit

Nach Deinen Erfahrungen in der DDR bist Du sensibilisiert und setzt Dich heute für Demokratie und Freiheit ein. Was sind Deine Wünsche für eine offene Gesellschaft? 

Jeannette Hagen: Ich vermisse, dass wir keine Visionen für Deutschland entwickeln, uns zu wenig mit der Frage beschäftigen, in welchem Land wir leben wollen, wofür wir stehen und wohin wir steuern. Vor den kraftvollen Visionen für die Zukunft steht für mich aber auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Diktatur des Naziregimes und die Fragen nach den Tätern ist zu wenig aufgearbeitet.

Ich wünsche mir, dass Deutschland vorangeht, wir stärker die Vorbild-Rolle übernehmen und nicht in einem alten Denken verharren, warten oder gar hoffen, dass alles gut geht. Dazu gehört auch, dass wir Lösungen für die Herausforderungen finden, vor denen wir stehen: Klimakrise, Erstarken des Rechtsextremismus, globale Verwerfungen. Wir müssen agieren, nicht reagieren und dafür braucht es Politiker*innen, die anleiten, statt von der Kanzel herab zu regieren.

Mehr Bürgerdialoge und wirksame Beteiligung an demokratischen Prozessen täten der Gesellschaft gut, weil sich die Bürgerinnen und Bürger dann stärker engagieren würden und sich eingebunden fühlen. Ich bin überzeugt, dass die meisten Menschen Freude daran hätten, sich für das eigene Land einzubringen. Aber es muss auch anerkannt und umgesetzt werden. Nehmen wir die große Protestwelle Anfang 2024 – da sind Millionen für Vielfalt und Demokratie auf die Straße gegangen. Und was passiert? Diese Menschen müssen sich anhören, dass man den „besorgten Bürgern“ zuhören müsste. Ganz ehrlich: So etwas frustriert, denn die Sorgen der Demonstrierenden erscheinen dann plötzlich weniger wichtig. Ich will als Bürgerin auch nicht verwaltet werden. Ich will gestalten, aber dafür braucht es Angebote.