Karriere als Grund?
Warum Arbeitnehmer in hierarchischen Organisationen arbeiten wollen

von Timm Urschinger, LIVEsciences*

Wir schreiben das Jahr 2022. Praktiker aus den Bereichen Personalwesen, Organisationsentwicklung, Unternehmensberatung, aber auch wissenschaftliche Studien gehen davon aus, dass Organisationen mit flacheren Strukturen und mehr horizontalen Bewegungen leistungsfähiger sind als ihre traditionellen bürokratischen und hierarchischen Gegenstücke.

Die Verschlankung einer Organisation hat sowohl für Unternehmen als auch für Mitarbeitende zahlreiche Vorteile: eine bessere Kommunikation, ein schnellerer Informationsfluss, eine effizientere Entscheidungsfindung, Empowerment, mehr Innovation und sogar eine höhere Produktivität – natürlich aber auch einige Nachteile, wenn der Wandel nicht richtig oder nur halbherzig umgesetzt wird. Der weltweite Trend geht dahin, dass Organisationen von hierarchischen zu flacheren Strukturen übergehen, auch wenn einige dies schrittweise tun oder nur bestimmte flache Eigenschaften übernehmen.

Warum also halten immer noch so viele Unternehmen an hierarchischen Strukturen fest, obwohl sich die Hinweise häufen, dass dies nicht mehr der richtige Weg ist? Könnte es sein, dass Mitarbeitende lieber in vertikalen Organisationen tätig sind, weil sie – zumindest gefühlt – von strukturierten Aufstiegsmöglichkeiten profitieren oder sich von der Klarheit hinsichtlich Rollen und Funktionen Sicherheit versprechen?

Das Spektrum der Hierarchien

Bevor wir versuchen, diese Fragen zu beantworten, sollten wir zunächst klarstellen, dass es eine einige Grauzonen zwischen dem Schwarz und Weiß der vertikalen und horizontalen Strukturen gibt. Jacob Morgan berichtet in einem Forbes-Artikel  über fünf verschiedene Arten von Organisationsstrukturen. Zwischen der starren traditionellen Hierarchie und der Holakratie ohne Chefs, die Morgan beschreibt, gibt es Organisationen, die mehr oder weniger flach sein können, aber vertikale Merkmale beibehalten.

Die Verflachung einer Organisation kann so einfach sein wie die Öffnung von mehr Kommunikations- und Kooperationslinien zwischen verschiedenen Mitarbeitenden und Abteilungen. Oder die Möglichkeit für innovativere und schnellere Abteilungen, flachere Strukturen zu übernehmen, in denen Mitarbeitende rascher sinnvolle Entscheidungen treffen können. Wenn sich viele Unternehmen dafür entscheiden, die Merkmale von vertikalen und horizontalen Organisationen zu mischen, anstatt sich ganz auf eine der beiden Seiten festzulegen, muss es gute Gründe für Mitarbeitende und Unternehmen geben, ein gewisses Maß an Starrheit und Hierarchie zu bevorzugen.

Ein Indikator für flache Organisationen ist die zunehmende horizontale Mobilität der Mitarbeiter. Ebenso wie der Wechsel zu horizontalen Organisationen ist auch der Wechsel von Mitarbeitenden zwischen Teams und Abteilungen ein neuer Trend. Die Arbeit in verschiedenen Teams und die Übernahme mehrerer Rollen kann es den Mitarbeitenden ermöglichen, vielfältigere Fähigkeiten zu entwickeln und sich stärker am Erfolg des Unternehmens zu beteiligen. Die Förderung von mehr horizontaler Bewegung in einem Unternehmen kann den Mitarbeitenden helfen, Möglichkeiten zu finden, sich in der Zukunft weiterzuentwickeln, und den Unternehmen gleichzeitig Geld für Schulungen und Einstellungen sparen.

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Timm Urschinger

Die Herausforderung flacherer Strukturen

Da immer mehr Unternehmen flachere Hierarchien einführen, wird von den Arbeitnehmern zunehmend erwartet, dass sie sich seitwärts bewegen und in verschiedenen Funktionen arbeiten, anstatt die Unternehmensleiter bis in die Führungsetagen zu erklimmen. Wenn Unternehmen Manager und Vorgesetzte abbauen oder abschaffen, besteht natürlich die Gefahr, dass sie den Arbeitnehmern die Chance vorenthalten, sich innerhalb des Unternehmens weiterzuentwickeln. Horizontale Versetzungen helfen den Mitarbeitenden, neue Fähigkeiten zu erlernen, aber sie sind nicht unbedingt mit mehr Verantwortung oder einer höheren Vergütung verbunden – und schon gar nicht mit der traditionellen Karriere, wie wir sie alle kennen.

Vertikale Organisationen sind zwar offensichtlich schlechter in der Lage, die Mitarbeitenden am unteren Ende der Karriereleiter zu fördern, aber sie bieten einen klaren Aufstiegsweg für die Mitarbeitenden in Bezug auf Autonomie und Verantwortung. Aber reicht das aus? Man kann sich gut vorstellen, dass ein plötzlicher Wechsel zu einer flachen Struktur nach einer Karriere, die in einer starren Befehlskette verbracht wurde, zu einem Zögern führen kann, wenn man beispielsweise mit neuen Befugnissen konfrontiert wird, für die man vielleicht noch keine Kompetenz oder Erfahrung hat.

Strategien für die Einführung einer horizontalen Struktur im Hinblick auf Karriere

Die beschriebenen Faktoren führen offensichtlich dazu, dass Mitarbeitende es sich zweimal überlegen, ob sie sich einer horizontalen Organisation anschließen. Aber auch die Organisationen selbst ziehen es vor, weitgehend hierarchisch zu bleiben. Um trotzdem von den Vorteilen einer flacheren, horizontalen Struktur zu profitieren, müssen Unternehmen neue Wege gehen. Folgende Lösungsansätze haben sich bereits bewährt:

  1. Organisationen müssen keineswegs von einem Tag auf den anderen komplett zu einer Holakratie (oder ähnlichem) übergehen oder darauf bestehen, dass alle Strukturen sofort und vollständig flacher werden. Sie können stattdessen die Fülle ihrer qualitativen und quantitativen Daten nutzen, um zu entscheiden, in welchen Bereichen sie zukünftig eher ein horizontales oder eher ein vertikales Vorgehen bevorzugen. In vielen Fällen ist sicher ein hybrides System am sinnvollsten. Betrachten wir unter diesem Aspekt das Problem der Mitarbeiterentwicklung und -laufbahn, stellen wir zwar fest, dass eine Abflachung der Hierarchie zu weniger klaren Karrierewegen führen kann, aber Organisationen durchaus trotzdem horizontal vorgehen können. Anstatt das Managersystem vertikaler Organisationen beizubehalten, können Unternehmen die Hierarchien abflachen, aber dennoch Stellenbezeichnungen verwenden, die das Dienstalter der Mitarbeitenden widerspiegeln. Ältere Mitarbeitende haben vielleicht niemanden, der ihnen direkt unterstellt ist, aber mit der richtigen Unternehmenskultur können diese erfahrenen Teammitglieder als Mentoren und Coaches für weniger erfahrene Kolleg:innen fungieren. Es ist zum Beispiel wichtig zu verstehen, wie viel schwieriger der Übergang zu horizontalen Strukturen sein kann, je größer und komplexer die Organisation ist. In diesem Fall könnte es sinnvoll sein, bestimmte Abteilungen oder Geschäftsbereiche herauszufiltern, die am meisten von einer Änderung profitieren und am wenigsten darunter leiden würden.
  1. Eine andere Strategie besteht darin, ein hierarchisches System nur dann zu verwenden, wenn es um Personalangelegenheiten geht. Stellenbezeichnungen können zur Abgrenzung von Vergütung und Dienstalter verwendet werden, während sie im Tagesgeschäft völlig ignoriert werden, die Teams wirklich rollenbasiert arbeiten und die Interaktionen zwischen den Mitarbeitenden bestimmen, wer situativ zum Mentor und zur Führungskraft wird. Auf diese Weise gehen die Laufbahn und die funktionalen Gehaltsstufen der vertikalen Strukturen nicht völlig verloren.
  1. Eine weitere Möglichkeit, vielleicht die radikalste und wahrhaft holakratische, besteht darin, die Mitarbeitenden selbst zu ermächtigen, ihre Rollen und Zuständigkeiten abzugrenzen. Dies ist ein Teil dessen, was den kalifornischen Tomatenverarbeiter Morning Star zu einem enorm innovativen und erfolgreichen Unternehmen gemacht hat. Gary Hamel und Michele Zanini beschreiben in ihrem wunderbaren Buch „Humanocracy: Creating Organizations as Amazing as the People Inside Them“ (Organisationen kreieren – so erstaunlich wie die Menschen in ihnen), wie die Teammitglieder von Morning Star untereinander Verträge (so genannte CLOUs – Commitment Letters of Understanding, also Verpflichtungen an Kolleg:innen, um Klarheit zu erzeugen) abschließen, in denen sie ihre Rollen innerhalb des Unternehmens festlegen. CLOUs sind Verpflichtungen, die sie gegenseitig eingehen und auf denen auch ihre Vergütung basiert.

Fazit: Wie im Artikel beschrieben, bieten flache Hierarchien die vielversprechendsten Möglichkeiten, Mitarbeitende weiterzubilden und zu befähigen. Aber es ist nicht nur schwierig, den Absprung von einer traditionellen Struktur zu vollziehen, sondern die Teammitglieder vermissen möglicherweise auch die Vorteile klar definierter Rollen und Aufstiegsmöglichkeiten. Vor allem dann, wenn es um die „Beschäftigungsfähigkeit“ außerhalb des eigenen Unternehmens geht. Letztendlich gibt es nicht das eine richtige System oder die eine richtige Lösung. Es liegt an jeder Organisation, die beste Mischung aus verschiedenen Strukturen für sich zu finden.

Über den Autor

Timm Urschinger ist Mitgründer und CEO von LIVEsciences. Nach dem Studium sowie einigen Jahren bei einem bekannten Pharma-Konzern in der Schweiz und im Consulting beschloss er ein eigenes Unternehmen zu gründen. Seine Erfahrung im Management globaler Programme und Transformation hat in ihm die Leidenschaft geweckt, pragmatische und innovative Lösungen zu entwickeln – für das eigene Unternehmen und für Kunden. Neue Organisationsmodelle wie Teal spielen dabei eine ebenso große Rolle wie die Selbstführung und dass Menschen endlich wieder Sinn und Spaß im Berufsleben erfahren. https://www.livesciences.com

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Über LIVEsciences

LIVEsciences ist ein experimentierfreudiges Berater-Team, dessen Vision es ist, den Erfolg von Unternehmen und Organisationen zu katalysieren. Zentrale Bausteine sind das Potential der Menschen zu entfalten sowie Problemlösungstechniken zur Selbsthilfe.

Das Ziel ist eine sich selbst organisierende Kultur als Basis für Innovation und Wachstum in einer sich schnell verändernden Welt. Namhafte Konzerne wie Roche, Siemens, Novartis, Bayer, Boehringer Ingelheim sowie beispielsweise auch die Basler Kantonalbank und die Schweizer Bundesbahn setzen bereits auf das Knowhow, die Erfahrungen und die Werte der Katalysatoren.

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